Vorwort zu Alexander Dugin, Eurasische Mission (deutsche Ausgabe, Arktos London 2022)
(Siehe dazu auch die Video-Reihe „Dugin Heimat“)
Angesichts des permanenten Krieges mit seinen Millionen von Toten, der Zerstörung aller Kulturen durch die „pax“ americana und jetzt ihrer Selbstzerstörung samt Ausplünderung, sind Entwürfe für eine neue Ordnung dringend geboten. Der moderne Westen, in dem die Rothschilds, Soros, Schwabs, Bill Gates und Zuckerbergs triumphieren, ist das ekelhafteste Phänomen der Weltgeschichte.1Eine global organisierte Bewegung gegen den unipolaren Imperialismus, gegen die Eroberung der Welt durch die Dekadenten, ist notwendig.
Alexander Dugin breitet seinen Entwurf der revolutionären Veränderung seit vielen Jahren in vielen Büchern aus. Sein Entwurf ist schön. Sein Eurasianismus – der eigentlich Multipolarismus heißen müßte, weil er sich auf die ganze Welt bezieht – ist eine schöne, harmonische Vision von der Welt, mit der man nur einverstanden sein und deren Verwirklichung man sich nur wünschen kann. Vielfalt und Verschiedenheit sollten als Reichtum und als Schatz verstanden werden und nicht als Grund für unvermeidliche Konflikte. Die Grundlage des Duginschen Entwurfs ist die Schönheit, in ihrem Namen spricht er: Gegen die bestehende Ordnung, die wir als ein unerträgliches Übel wahrnehmen, ist es notwendig, ein alternatives Schönheitsideal vorzuschlagen.Die Schönheit aber entsteht in den Völkern, die für Dugin primärer Wert und Subjekt der Geschichte gegen die Homogenisierungsind. Sie werden in künstlichen sozialen Konstruktionen gefangen gehalten, aus denen sie befreit werden müssen.
Eine absurde und dekadente Welt, wo Nazi ist, für den der Strom nicht nur aus der Steckdose kommt, gehört abgeschafft: Wir brauchen eine andere Welt. Sie wird besser sein, und sie wird der Weg zur Erlösung sein.
Was ist der Weg im globalen Rahmen, worin besteht die Erlösung auf der Makroebene? Darüber gibt u.a. das Programm der Internationalen Eurasianistischen BewegungAuskunft, das Sie in diesem Buch lesen können und von dessen Schönheit Sie mitgerissen werden. Für den dort erwähnten Dialog der Kulturensoll dieses Vorwort ein Element sein, denn heute, im Zeitalter der Globalisierung, ist ein eurasischer Dialog zwischen Ost und West wichtiger als je zuvor.2
Neben den russischen Ur-Eurasiern sind die meisten Denker, die Dugin verehrt und auf die er sich beruft, Westler. Er liebt Europa, liebt den Westen. Je schneller und vollständiger Russland von der Anti-Zivilisation abgeschnitten wird, desto eher wird es zu seinen Wurzeln zurückkehren. Zu welchen? Zu den europäischen. Das heißt, zu den gemeinsamen Wurzeln mit dem wirklichen Westen.
Wenn er mit dem Westen als dem globalistischen Hegemon bricht,dann nicht mit Europa,sondern mit Tod, Degeneration und Selbstmord. Er ruft uns Europäer auf, die globalistische Junta zu stürzen und ein echtes europäisches Haus zu bauen, eine europäische Kathedrale.3 Am tiefsten Punkt seines Niedergangs angelangt, ist Europa, so Dugin, eine Art tragische Gemeinschaft, eine Kultur, die im Herzen der Hölle auf der Suche nach sich selbst ist.
Dieser Suche nach sich selbst widmet sich – vom großen ins kleine kommend – ansatzweise dieses Vorwort ganz im Sinne Dugins, wenn er schreibt: Und in dem Maße, in dem sich neue Schichten unserem Projekt anschließen werden, wird diese globale Bedeutung des Eurasianismus erweitert, bereichert und in ihren Merkmalen verändert werden.
Dugins Entwurf ist weltweit einzigartig. Wer sonst spannt ein so breites Dach für den Dialog und für die Verwirklichung der Vielfalt aus? Wessen Gedankenwelt ist so weit angelegt und reicht vom Äußersten, dem Globalen, bis ins Innerste, dem Individuellen, vom Geopolitischen bis zu den tiefsten Fragen der menschlichen Existenz?
Dugins Vierte Politische Theorie deckt all das ab und bringt es in einen großen Zusammenhang. Und sie verdichtet sich dann zu einer Ideologie und politischen Programmatik, die einer weltweite Bewegung zu Grunde liegt. Das prädestiniert ihn für eine gewisse geistige Führerschaft zur Errichtung einer post-unipolar-globalistischen Welt und deckt sich mit dem Umstand, daß dem Land, dem er entstammt und das er repräsentiert, ebenfalls die Führung zur Rettung der Welt zukommt.
Dugins Theorie ist eine konstruktive Kritik der globalistischen Ideologie – dem Liberalismus mit seinem individualistischen Kern –; sie führt das Individuum in seinem authentischen Dasein zur Gemeinschaft und übergeht es nicht wie in den Zwangsgemeinschaften von Kommunismus und Faschismus, den vergangenen und gescheiterten Alternativen zum Liberalismus. Im Sinne des Aufrufs an souveräne Subjekte zu einem offenen und konsequenten Dialog, um die Anstrengungen zu bündeln, den Dugin im o.g. Programm erlassen hat, entwickle ich die folgenden Gedanken:
Wir müssen den Anspruch einer Erlösung haben und aufrechterhalten. Die Frage ist, wo wir sie suchen: im Politischen, Sozialen, Religiösen oder Psychologischen. Die Eurasianisten akzeptieren die Treue zu religiösen Traditionen ebenso wie die freie, kreative Forschung. – So von Dugin eingeladen, möchte ich hier die die zweitgenannte Haltung einnehmen und sprechen lassen.
Der Gegenpol zur Geopolitik (und damit Gegengewicht zum Hauptinhalt dieses Buches) ist der einzelne Mensch. Um diesen geht es – um dich und mich. Nur in uns liegt die Motivation von Handlung, die immer aus einer Unzufriedenheit (Nichtbefriedigtheit) heraus geschieht. Und nur für uns soll alles geschehen. Dugins Manifest der Globalen Revolutionären Allianzwird mit dem Motto Unzufriedene auf der ganzen Welt, vereinigt euch!eingeleitet. Dugin setzt an der Basis von allem an: an uns. Er setzt nicht bei den Großräumen an, wie das seelenlose Politologen tun. Von Anfang geht es um die Subjekte: Ich glaube, dass das Subjekt der Politik das Dasein oder der existentiell verstandene Mensch sein sollte, unabhängig von Staatsbürgerschaft oder Ethnizität.4
Es ist die Verfaßtheit des Individuums, die an der Basis aller sozialen und politischen Geschehnisse durch die Geschichte hindurch liegt. Der Zusammenhang von Makro- und Mikrostrukturellem wird von den deutschen Duginisten Alexander Markovics und Michael Kumpmann in ihrem Video „Sinnsuche im Wahnsinn des Liberalismus 2.0“5 vorexerziert. Kumpmann geht dort ins Subjektivste und Intimste und bringt das dann sowohl mit seiner Stellung in der Gesellschaft als auch mit der Vierten Politischen Theorie in Verbindung, die ihn zu einer Verbesserung seiner Lage (größere Zufriedenheit) verholfen hat.
Geopolitik wird von Dugin nie isoliert betrachtet, sondern immer in bezug auf den Einzelnen. Die Frage nach den Wurzeln bei der Suche nach einer tiefen Identität erinnert an die Begriffe Boden, Raum und Landschaft.Die Seele des Einzelnen wird aber nicht nur von diesen geprägt, gar konstituiert, sondern im biologischen Urgrund seiner einmaligen Existenz – in seinem Eigenleben. Dort baut sich seine – neben der kollektiven – individuelle Identität auf, von dort erfährt er letztlich den Sinn.
Dagegen ist für Dugin der Boden heilig für eine tiefe Identität und die grundlegendste, vegetative Ebene der Seele.Das glaube ich nicht. Es gibt Konstanten am Boden der Seelen, unabhängig davon, in welche Landschaft sie geraten sind. Einfach in der Welt auftauchen – das ist schon das Wunder.
Ein Video zur Rekonstitution des nihilisierten Subjekts und dessen authentische Rückverbindung auf der grundlegendsten, vegetativen Ebene der Seele mit dem für eine tiefe Identität heiligen Boden erscheint in Kürze auf dem YouTube-Kanal des Instituts für Tiefenwahrheit.6
Geopolitik bezieht sich auf die Erde, aber ein einziger Mensch, so Dugin, ist ein Universum.
Ich halte von dem Begriff „spirituell“ nicht viel, aber wenn wir darunter die konzentrierte, bis ins Metaphysische gehende Selbstreflektion verstehen, können wir Dugin nur zustimmen: Für die Eurasianisten ist die spirituelle Entwicklung die wichtigste Priorität des Lebens, die nicht durch irgendwelche wirtschaftlichen oder sozialen Vorteile ersetzt werden kann.
Es geht um das Subjekt – unabhängig vom Kollektiv und diesseits des landschaftlichen und gemeinschaftlichen Eingebettetseins – als Träger von Zufriedenheit oder Leid, in seinem letztlichen Alleinsein und in seiner Verantwortung für und vor sich selbst (oder vor Gott). Das Dasein ist keine formale Kategorie – nicht die Staatsbürgerschaft, nicht die Ethnie, nicht die Sprache. Es ist Tiefe einer metaphysischen und existentiellen Kultur.7
Nach Marc Jongen ist „der spirituelle Standpunkt der einzige, von dem aus sich ein Ausweg aus der gegenwärtigen Krise der Menschheitsentwicklung zeigen kann“, und für Dugin ist das Ausmaß der Katastrophe so groß, dass wir die Möglichkeit nicht ausschließen können, dass der qualvolle Todeskampf der globalistischen, westlich orientierten Welt uns alle mit in den Abgrund reißt. Die Katastrophe, in der wir uns alle befinden und die sich zuspitzt, ist vollständig menschengemacht. Es gibt Kräfte, die alles tun werden, um den Status quo zu erhalten. Sie sind die Architekten und Manager der globalen, egozentrischen, hyperkapitalistischen Welt. Sie sind für alles verantwortlich. Die globale Oligarchie und ihr Netzwerk von Agenten ist die Wurzel allen Übels.
Wir müssen aber auch hier – bei der Katastrophe – auf das Subjektive zurückkommen, denn sie ist nicht nur politisch-historisch zu fassen, sondern auch und sogar eher individual-existentiell: Sie ist ebenso in dem Sinne menschengemacht, als daß die Menschenschafe den globalen ManagernErlaubnis erteilen, die Gegenelite zu schwach ist und beide mindestens im gleichen Maße Wurzel allen Übelssind.
Was ist nun am Individual-Existentiellen zu kritisieren, wo genau in diesem lägen die Ursachen für die Katastrophen? Und vor allem: Welche Remedur wäre hier angebracht?
Was steht im Zentrum der Duginschen Denkens? Nach dem atomisierten Individuum im Liberalismus (Erste Politische Theorie), Klasse und Rasse in Faschismus und Kommunismus (Zweite Politische Theorie), Nation und Rasse im Dritten Weg bzw. im Nationalbolschewismus (Dritte Politische Theorie) und die Gemeinschaft der Gläubigen im Falle der Religionen ist in Dugins Vierter Politischer Theorie das Subjekt bzw. das Heideggersche Dasein zentraler Inhalt und Begriff.
Damit ist der Weg nicht nur zur Erlösung im Makrobereich (das kollektive Subjekt) geöffnet, sondern auch im Mikrobereich (das individuelle Subjekt), denn das vollständige Dasein beendet die Entfremdung und bedeutet das hergestellte Selbstsein der Subjekte und die Aneignung bzw. die Ausfüllung der Person – und damit die Stärkung und Souveränisierung der Einzelnen und ihrer Kollektive gegen die globale Oligarchie. Dugins Radikales Subjektwird dann zum Katechon.
Das Dasein, dieser äußerst tiefgründige Begriff, könnte der gemeinsame Nenner für die weitere ontologische Entwicklung der Vierten Politischen Theorie sein.Im folgenden will ich zu dieser Entwicklung beitragen, die letztlich zur Beendigung der Ontologie und zum ón führen wird.
Entscheidend ist hier die Frage nach der Authentizität oder Nicht-Authentizität des Daseins.Wenn das Subjekt ganz in seiner Wahrheit lebt und authentisch ist, hört es mit der Ontologie auf, d.h. es redet nicht mehr vom Sein, sondern ist und beendet die Verwirrung der komplizierten Beziehung zwischen Seyn und Denken.8Wenn das Subjekt sich endlich nicht mehr als Objekt sieht und von sich nur noch in der ersten Person Einzahl spricht anstatt von einem Ich, gehen wir völlig neue Wege und zur Post-Philosophie über. Horst Mahler „würde das für einen Fehlschlag des Denkens halten“. Aber mir geht es nicht ums Denken, sondern ums Sein. Mahler sagt: „Das Absolute ist die konkrete Einsheit von Subjekt und Objekt“ und wirft mir einen „Rücksturz in die abstrakte Dieselbigkeit“ vor, „die gerade nicht Wissen der Wahrheit ist“. Mir aber geht es gar nicht um das Wissen der Wahrheit, sondern um die Wahrheit – die zur Echtheit des Seins führt. Horst Mahler möchte im Bereich der Philosophie bleiben, in der folgerichtig die Subjekt-Objekt-Dichotomie aufrechterhalten bleibt. Damit verhindert er die vollständige Aneignung seiner selbst und die Beseitigung der Entfremdung – die nicht durch intellektuelle Tricks „aufgehoben“ werden kann.
Die Vierte Politische Theorie beharrt auf der Authentizität der Existenz. Daher ist sie die Antithese zu jeder Art von Entfremdung.
In den 90er Jahre hat es eine relevante Zahl von intelligenten, idealistischen und aufopferungswilligen jungen Männern gegeben, die sich von den politischen (nicht aber philosophischen) Schriften des Nationalmarxisten Reinhold Oberlercher begeistern lassen und sich – im Rahmen einer angeblich notwendigen Intellektualisierung des Widerstands – zu philosophischen Schulungen hinreißen lassen haben (anstatt solchen in Strategie, Taktik, psychologischer Kriegsführung und Kommunikationsguerilla). Auch Horst Mahler macht noch bis heute das Wohl und Wehe Deutschlands von der Annahme der Hegelei abhängig. Diese Begeisterung ist schnell zum Erliegen gekommen und hat einer großen Enttäuschung Platz gemacht – eine große Chance ist vertan worden. Die Tatkraft dieser jungen Männer ist in wüstischer Denkerei erstickt und verschwendet worden. Das darf nicht noch einmal passieren.
Heidegger ist da schon eine bessere Wahl, weil dieser sich eher auf das Sein und damit auf die Handlung in der Welt direkt bezieht und weniger aufs Denken. Die Philosophie Martin Heideggers ist für die Vierte Politische Theorie zentral, er ist ihr wichtigster Denker. Sein Begriff des Daseins ist ihr Hauptthema. Die Aufgabe besteht darin, die implizite politische Philosophie Heideggers zu einer expliziten weiterzuentwickeln und so eine Doktrin der existenziellen Politik zu schaffen.
Heideggers Philosophie, also die Phänomenologie, d.h. die Erfassung der Dinge, wie sie sich uns tatsächlich sinnlich präsentieren, wird bei Dugin zur Grundlage des politischen Handelns, das sich am konkreten Dasein der individuellen und kollektiven Identitäten orientiert.
Dugin unterscheidet zwischen drei Arten von Identität: Die Diffuse ist irgendwie verworren, unsicher, unbewusst und schwach. Die Extreme ist die künstliche Schöpfung einer rationalen Formel, die vorgibt, die diffuse Identität im intellektuellen Bereich auszudrücken und zu manifestieren. Hier wird die Identität zu einer Ideologie, einem konzeptionellen Rahmen oder einer Theorie. Sie versucht, die Träger einer diffusen Identität davon zu überzeugen, dass diese ihr Wesen ausmacht. Die Tiefe Identität ist die privilegierte in der Vierten Politischen Theorie, sie ist eine organische, existentielle, grundlegende Identität.
Was macht die Tiefe aus? Wie können wir sie erreichen? Können wir den Grund unseres Seins denkend und sprechend erfassen? Richard Wagner schreibt: „Die Rückkehr aus dem Verstande zum Gefühle wird insoweit der Gang des Dramas der Zukunft sein, als wir aus der gedachten Individualität zur wirklichen vorschreiten werden.“9 Wagner setzt Gefühl und Wirklichkeit in eins. „Die zentrale Rolle in Richard Wagners Ästhetik des musikalischen Dramas“, so Carl Dahlhaus, „ist die Verwirklichung.“10Verwirklichung ist demnach Anwachsen des Gefühls. Das Dasein ist vor allem etwas Gefühltes: Ich fühle, also bin ich. Und es erwächst aus dem Gefühlten – und weniger aus dem Gedachten –, und es wächst weiter mit der Vertiefung des Gefühls. Nur gilt dies nicht nur in der Ästhetik, sondern vor allem im Sein: Die Emotion ist tiefer als der Intellekt.
So, wie der derzeitige abrupte Ausschlag in Richtung eines übertriebenen Materialismus durch eine scharfe Hinwendung zum spirituellen Prinzip ausgeglichen werden muß,so muß der Robotisierung und dem Transhumanismus mit einem Gegenschlag von größtmöglicher Wucht begegnet werden, und dieser liegt in dem, was das Volk als „menschlich“ bezeichnet, womit es Gefühl meint. Nicht nur auf Seiten der Biotechnik – d.h. des Sich-Abgebens, des Sich-Verlierens und der nicht mehr aus dem Inneren kommenden Steuerung – sind große Fort-Schritte gemacht worden. Auch auf der Gegenseite – bei der Wiederaneignung verloren gegangener, insbesondere emotionaler Anteile des Selbstes – sind große Rück-Schritte gemacht worden.
Hier müssen die Verdienste der Post-Freudianer genannt werden, die von konservativer Seite in nur all zu leichter und oberflächlicher Weise als „Kultur-Marxisten“ abqualifiziert werden, deren konservative Leistung im Hinblick auf die Radikalisierung des Selbstes, d.h. die Zurückführung auf dessen „traditionelle“ Wurzeln, aber zu würdigen ist: im Linksradikalismus liegt der Keim zum Urkonservatismus.
Die Assimilation der Gesellschaftskritik der „Neuen Linken“ in eine „konservative rechte Interpretation“, die sich auf das Erbe von Michel Foucault, Gilles Deleuze, Antonin Artaud und Guy Debord bezieht, tragen zur Entwicklung der Ideen der klassischen Eurasianisten bei. Und zu den Schätzen moralischer Führung und Inspiration, die zu integrieren die Duginsche Theorie in ihrer Offenheit und Schönheit ausmacht, gehören m.E. noch viel mehr und eher Wilhelm Reich, Fritz Perls und Arthur Janov.
Wilhelm Reich wird auf rechter Seite – bis auf die sehr berechtigte Kritik an einigen Aspekten seines Frühwerks – arg mißverstanden und Unrecht angetan, gar verleumdet (angeblich Mitarbeiter der Frankfurter Schule usw.). Und die Hinwendung Reichs in seinem reifen Alter zu Konservatismus und Christentum wird übersehen. Liberale bezeichnete Reich nur noch als „Freiheitskrämer“. Der Konservative – so Reich in seinem Buch „Christusmord“ –, ist „weit ehrlicher als die Freiheitskrämer, hat wenigstens eine Chance, anständig zu bleiben. Der Freiheitskrämer dagegen muß seine Seele dem Teufel verkaufen, wenn er vorankommen will.“11
Gerade in der Person Wilhelm Reichs bietet sich ein Mittel zur Verständigung mit dem „linken“ Flügel des Antiglobalismus,ein Schnittpunkt von Konservativen und denjenigen, die das bürgerliche westliche System aus der Perspektive des Anarchismus, Neomarxismus usw. ablehnen.
Politologisch sehr interessant für die Vierte Politische Theorie ist die Lehre von den soziopolitischen Charaktertypen des Wilhelm-Reich-Nachfolgers Elsworth F. Baker, in der der liberale Charakter denkbar schlecht abschneidet, die Konservativen aber um so positiver gewertet werden: „Der konservative Charakter kommt in unserer kranken Gesellschaft wahrscheinlich der Gesundheit am nächsten, zumindest in seinem Sozialverhalten.“12
„Der liberale Charakter“, so Elsworth F. Baker, sei dagegen „vom wirklichen Fühlen abgeschnitten und findet sich in einer intellektuellen Welt aus Wörtern und Gedanken, die sehr wenig organismische Befriedigung bietet. Der Verstandesweg kann nicht zur Gesundheit führen […]. Er entwickelt also ein dringliches Bedürfnis, Lösungen zu finden, das ihn ständig zu Veränderungen treibt. Aber die Lösung ist immer außer Reichweite, denn er kann sie nur im Geist suchen, der selber ja gerade den emotionalen Ausdruck und die Abfuhr verhindert.“13
Doch so gesehen sind auch viele Konservative – auch wenn sie „den Kontakt zum Wesenskern behalten haben“14 – liberal. Abgehobenheit und Intellektualismus sind eine moderne Konstante, und es gilt, die Radikalisierung des Subjekts dagegen voranzutreiben. Es gibt also den konservativen Liberalen und den liberalen Liberalen.
Dugin schlägt die einzig richtige Heilung des Liberalen von seiner Wesenskern- und Wurzellosigkeit vor: die Implosion des Individuums. Für Dugin ist der Begriff des Individuums ein soziales Konzept. Ein Mensch, der außerhalb einer Gesellschaft lebt, weiß nicht, ob er ein Individuum ist oder nicht. Doch in seiner subtilen Individualismus-Kritik wird er dem Individuum mehr gerecht als der Individualismus. Die Implosion des Individuums ist in gewisser Weise die des Reich’schen Charakterpanzers. Die Dugin’schen drei Arten von Identität entsprechen den drei Schichten der modernen Person nach Reich: die dritte, äußere, ist das heidegger’sche „man“ (die diffuse Identität), die mittlere Schicht ist die irrationale und destruktive Revolte gegen das „man“ (die extreme Identität), und die Tiefenschicht, der Kern, ist das authentische Subjekt (die tiefe Identität).
Dort, wo die Zwangsgemeinschaften von Kommunismus und Faschismus das Umerziehungslager zum Einsatz brachten, da läßt Dugin das liberale Individuum ganz es selbst sein: Implosion bedeutet nicht, einen Schritt zurück in vorliberale Gesellschaftsformen oder einen Schritt seitwärts in die illiberalen Formen der Moderne zu machen, sondern vielmehr einen Schritt innerhalb der nihilistischen Natur des Individuums.
Das liberale Individuum fällt, wenn es in seinen nicht vorhandenen Kern abtaucht, tatsächlich in’s Nichts.15 Dieses ist aber nicht seine „Natur“, und das Nichts ist – da das Individuum ja noch atmet und sich wahrnimmt – auch nicht vollständig. In diesem Quasi-Nichts erreicht der Liberale die Selbstbestätigung als die einzigartige und ultimative Instanz des Seins. Dies ist die letzte Konsequenz des radikalsten Solipsismus und kann zu einer Implosion des Egos und dem Erscheinen des wahren Selbst führen.
Wenn das Selbst radikaler wird und wächst, verkleinert sich gleichzeitig bis zum Verschwinden das Ego. Das Selbst entdeckt in seiner Radikalisierung nicht nur seine Transpersonalität und Weltverbundenheit, sondern auch sein Bedürfnis nach Verwurzelung.
Das wahre Selbst aber kann – und wird in den meisten Fällen – ein totes Selbst sein: Die Liberalen entdecken die Keimzelle des Liberalismus und das Zentrum der Individualität – es ist der Tod. Aber der Tod, der Abstieg, der Niedergang sollte als Ausgangspunkt für die Vierte Politische Theorie genommen werden. Der Tod des Subjekts aller klassischen politischen Theorien der Moderne ist die Geburt des wahren Daseins.
Dugin begründet den Trans-Individualismus mit dem Tod. Das Denken des Todes hat eine solche Wirkung. Aber man kann den Trans-Individualismus auch mit dem Tod als nicht-gelebtem, zerstörtem Leben begründen – als dem Tod bei lebendigem Leibe. Aus dem heraus nimmt die wirkungsvolle Entwicklung von Subjektbildung und Transpersonalismus ihren Lauf. Für ein Sein-vor-dem-Tod.
Ob der Tod oder das Nichts: was in diesen – paradox – noch vorhanden ist (das Wahrnehmen, der Wahrnehmende, der elementarste Bodensatz der Existenz), das ist das Authentische. Und genau so sieht es Dugin: es ist die direkte Konfrontation mit dem Tod und die Entdeckung des Nichts, das im Zentrum des Individuums als solches liegt. Hier wird die nihilistische Essenz des Liberalismus deutlich, und ausgehend von diesem schwarzen Fleck können wir die Vorschläge der Vierten Politischen Theorie zu seiner Überwindung weiterdenken.
Wir sollten nicht verallgemeinern und stets darauf hinweisen, daß wir keine Formeln vorgeben und daß jeder sein Ureigenstes am Boden seiner Existenz entdeckt – mag es das Nichts oder etwas anderes sein. Daß wir es mit einer nihilistischen Essenz des Liberalismuszu tun haben, ist gleichwohl offensichtlich, nur würde ich „Liberalismus“ auf die gesamte moderne Zivilisation ausweiten. Es ist eine Zivilisation der Unlebendigkeit und des Unechten, der Entfremdung. Die Dimension der existentiellen Tiefe fehlt. Wir können dennoch einige Wege aufzeigen, die es zu erkunden gilt.
Wenn das liberale Individuum auf konsequente Entdeckungsreise geht, implodiert es und macht dem Radikalen Subjekt Platz (dem Stirner’schen „Eigner“ oder „Einzigen“), das dann seinem Bedürfnis nach Zugehörigkeit folgen wird. Nietzsche nannte seinen Übermenschen den „Besieger Gottes und des Nichts“. Zuerst wird alles Heilige in letzter Konsequenz dekonstruiert (das hat Nietzsche von Stirner), bevor im Leerraum rekonstruiert wird. Reinhold Oberlercher schrieb in seiner Lehre vom Gemeinwesen: „Vom Tiefpunkt der vollendeten Individualisierung aus kann der Neuaufbau einer ständischen Volksgemeinschaft nur radikal atomistisch beginnen und vom Personenstand des Einzelnen ausgehen.“16
Zur Implosion wird es nicht kommen, wenn wir uns mit dem begrifflichen Individualismus begnügen. Keinen Grund für sein Dasein zu haben, ist dasselbe, wie einer rein mechanischen Form der Existenz zuzustimmen: eine Maschine zu werden, kein Mensch. Ohne Tiefe gibt es keine Existenz, also kann es auch keinen Menschen geben. Nur in der volkstümlichen Bedeutung des Wortes kann es unser Ziel sein, „Mensch“ zu werden. Der Humanismus ist objektivierend-entfremdend, präskriptiv und normativ und von daher abzulehnen. Dies aber aus einer, dem Transhumanismus extrem entgegenstehenden Warte: der des eigenen, unverfälschten Körpers als Spender des Lebenssinnes. Der „Mensch“ muß nicht durch das Transhuman, sondern durch den Einzigen ersetzt werden, um Radikales Subjektzu werden und die Schizophrenie eines Nietzsches hinter sich zu lassen: „Für Nietzsche war der Tod Gottes sowohl das Schrecklichste, die größte denkbare Katastrophe überhaupt, und gleichzeitig das großartigste und hoffnungsschwangerste Ereignis der Menschheitsgeschichte“, schreibt der Rechts-Reichianer Peter Nasselstein. „Sein Tod macht es möglich, das Universum wieder zu ‚verlebendigen‘.“17
Die Verlebendigung als Sinnstiftung und Grundlegung der Tiefenidentität geschieht diesseits anstatt – wie im Transhumanismus – jenseits des „Menschen“.
Kritik und Dekonstruktion der Linksradikalen bis hin zum Nichts waren durchaus richtig, denn nur dort, unter allen Entfremdungen, erwächst das, was Dugin das authentische Dasein nennt. Die Rechte hat nicht viel Konstruktives zur Ausfüllung des Nichts beigetragen außer Beschwerden. Einer ihrer führenden Denker, Panajotis Kondylis, hatte immerhin den richtigen Ansatz, als er dem nihilistischen Standpunkt auf theoretischem Gebiet die prinzipielle Überlegenheit über den normativistischen bescheinigt hat.
Die Nihilisten sind beim Auffüllen des Nichts unverzichtbar. Denn wie soll das Nichts unterwunden und durch das Authentische ersetzt werden, wenn man es vorher nicht anerkannt und durchlebt hat? Aus dem Nichts erwächst die zarte Pflanze des Authentischen.
Dugin macht nun Vorschläge zur Überwindung des Individuums: durch die Methode der Selbsttranszendenz durch eine Willensanstrengung oder durch eine existenzielle Begegnung mit dem Tod und der absoluten Einsamkeit.
Das ist erneut eine Stelle, wo wir Dugins Einladung folgen, denEurasianismus zu erweitern und zu bereichern: Unser Gegenvorschlag lautet: anstatt Selbsttranszendenz(als das Über-sich-Hinweggehen: noch mehr Abgehobenheit) – radikale Immanenz. Unterwinden anstatt Überwinden. Untermensch statt Übermensch – über sich selbst schwebt diese literarische Figur wie im Nahtod, oben im Reich des Geistes, sie hat keine Füße auf dem Boden. Untermensch ersetzen wir durch den Einzigen, der jeder ist, der einfach so, wie er ist, da ist: auf dem Boden, mitten im Leben.
Unterwinden heißt: den Tod und die absolute Einsamkeit als ultimativen authentischen Kern bejahen anstatt diesen aus dem Weg zu gehen. Indem wir uns mit dem Tod auseinandersetzen, erwecken wir den Inhalt unseres Wesens. Das Individuum kann sich aber auch durch andere tiefe Erfahrungen als echt und daseiend vergewissern (erweiterte kartesische Erfahrung). Das tut es mit allem, was es fühlt, wenn es sich seiner tiefen Wahrheit hingibt. Jeder Mensch kann seinen persönlichen Gott oder Geist entdecken. Aber er kann nicht von außen aufgezwungen werden. Er sollte von innen heraus gesucht und gefunden werden.
Wie tief müssen die Erfahrungen sein, um identitätsstiftende Wirkung haben zu können? Zunächst ist die Anerkennung des Realen Voraussetzung. Sagen, wie es ist – das sei der Leitspruch. Dieser Spruch steht aber – auf der volkstümlichen Ebene – für die Phänomenologie der Philosophen. „Wie es ist“ heißt: Was siehst du unmittelbar? Was stellst du unmittelbar fest? Das Festgestellte bezeichnen die Philosophen als die „Phänomene“. Auf volkstümlicher Ebene ist dieses Wort aber überflüssig. Da geht es nur darum, daß man etwas sagt. Was man sagt, ist die Sache selbst, für die man keine Kategorie anlegen muß.
Um aber nun Dasein-erzeugende Wirkung zu haben, darf der, der sagt, wie es ist, es nicht beim Sagen belassen, sondern muß, wenn sie sich im Verlaufe des Sagens einstellen, Gefühle zulassen. Wenn die Wahrheit unsagbar wird, muß weitergegangen werden und nicht um den heißen Brei herumgeredet werden: mit dem Unsagbaren, aber Fühlbaren. Das Unsagbare muß nun anders „gesagt“ werden: durch Ausdruck der Gefühle, durch die Sprache des Körpers.
Gefühle verstärken das Wahrnehmen seiner selbst, seines Selbstes, konstituieren die Person, sorgen für inneren Raum. Das Dasein existiert als Raum und durch den Raum.
Wo der Volkstümliche sagt, wie es ist, kategorisiert der Philosoph; wo der Volkstümliche anfängt zu weinen oder wütend zu werden, versucht der Philosoph, das Festgestellte immer präziser zu verbalisieren (Hermann Schmitz). Oder er erfindet neue Wörter für das Wortlose und Unsagbare oder lädt Begriffe mit immer mehr Bedeutung auf, wie es Heidegger getan hat.
Die Phänomenologie war der goldrichtige Ansatz, aber sie begab sich auf den Holzweg der Hyper- und Panverbalität. Kategorien anzulegen, zerstört das Unmittelbare (das gerade erst festgestellt wurde), entfernt das Subjekt wieder von sich selbst und macht es zum Objekt.
Das aber – auf Kategorien und endlose Schöpfungen künstlicher Wörter nicht nur zu verzichten, sondern sie als schädlich abzulehnen – heißt, aufzuhören zu philosophieren. Entsprechend berührt und stellt Heidegger – wie alle guten Philosophen – die Frage vom Ende der Philosophie. Er beantwortet sie nur nicht, deutet ihr Ende in der plötzlichen Wiederkehr des Seins (das „Ereignis“) nur an. Heidegger selbst schwankte immer wieder, ob dieser Punkt erreicht sei oder „noch nicht ganz“.18
Nicht nur die Hegelei, sondern auch die Heideggerei muß nun unterwunden werden und Sprache und Denken die ihnen gebührenden Plätze zugewiesen bekommen, soll das Subjekt radikalisiert werden. Den Philosophen muß eine Hilfestellung zur Unterwindung der Philosophie gewährt werden ähnlich den subtil und empathisch dargelegten Angeboten Dugins an die Anhänger der Ersten, Zweiten und Dritten Politischen Theorie.
Für Dugin entspricht die wichtige Idee des nous (Intellekt) unserem Ideal. Ich schlage dagegen vor, an die Bedeutung von nous im prä-philosophischen Sprachgebrauch der archaischen Zeit anzuknüpfen und zu einem Post-Intellektualismus überzugehen. Für Homer ist noein noch immer mit sinnlicher Wahrnehmung verbunden. Unter „erkennen“ versteht er noch „wahrnehmen“ und „bemerken“. Die von den Sinnesorganen gewonnenen Eindrücke sind unmittelbar Grundlage des Denkens, Homer verwendet nous umgangssprachlich, d.h. volkstümlich.
Es ist an der Zeit, zur Archaik zurückzukehren, mit dem Traditionalismus ernst zu machen und die Philosophie tatsächlich zu unterwinden. Wir sollten nicht davor weglaufen, es verstecken, uns dafür schämen oder versuchen, es zu modernisieren, sondern es als das erkennen, was es ist. Sobald es als solches erkannt ist, müssen wir uns selbst eine ehrliche Antwort darauf geben, wer wir sind.
Wir sind, wie wir sind; wir sagen es so, wie es ist; wir sind wir selbst. Wir sollten ganz zu uns stehen und archaisch sein: die Eigner – die die Gemeinschaft bilden. Die Moldawier sind noch archaischer als die Rumänen oder die Russen. Das ist gut, denn es spricht für die Einzigartigkeit ihres Landes und seiner Kultur. Es ist etwas Positives, es ist ihr Reichtum, und dieser Archaismus sollte keine Schande sein. Archaisch? Lassen Sie es archaisch sein. Es ist großartig! Es ist eine tiefe, kontemplative und schöne Kultur. Ich liebe sie sehr.
Dugin mißt der Philosophie einen sehr hohen Wert bei: Ohne sie kann man nicht leben. Der Mensch ist sich dessen nicht immer bewusst, aber die Philosophie bewegt ihn.Das glaube ich nicht. Es sind die sinnlich vermittelten Bedürfnisse, die den Menschen antreiben.
Der Eurasismus richtet sich auf freie Menschen, die fähig sind, ihre eigene Natur zu erkennen und ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Ohne Philosophie ist der Eurasismus unvollständig, sogar unmöglich.19Frei („liberal“) zu sein, war für Stirner keine Option – er wollte eigen sein. Der Eigner läßt sich nicht mehr durch Philosophieren vom Handeln abhalten.
Die philosophische Grundlage für die totale Zerstörung der Moderne wurde von der Heideggerschen Philosophie gelegt, die alle modernen philosophischen Konzepte auslöscht: Subjekt, Objekt, Realität, Zeit, Raum, Technik, das Individuum und so weiter. Die Moderne kann nur durch eine Hinwendung – historisch gesprochen Rückwendung – zur Archaik unterwunden werden, d.h. durch das Hier und Jetzt, in welchem all jene Konzepte entfallen. Der von Heidegger adorierte Hölderlin hatte sich bereits auf diesen post-philosophischen Weg zunächst ins Poetische begeben.20
Die Sprache der Propheten ist sehr eigenartig: sie ist poetisch, metaphorisch. Auch der Eurasianismus sucht die Kategorie seiner Sprache und seiner Analyse eher in Poesie oder erhabener Philosophie. Aber unsere Metaphern sind so präzise, diese Gleichnisse so verständlich, dass sie vielleicht klarer sind als die rationalste, logischste Erklärung.21
Doch bei der Beantwortung der Frage nach Dasein und Nicht-Dasein hat sich schließlich herausgestellt, daß sie weder philosophisch, noch poetisch zu lösen ist, sondern nur unter Einbeziehung der Gefühle.
Dugin spricht davon, ein kulturelles und intellektuelles Selbst zu reaktualisieren oder künstlich zu schaffen.Das Selbst ist aber im wesentlichen nichts Intellektuelles – und schon gar nicht „künstlich zu schaffen“. Das verstößt gegen die Authentizität. Es soll überhaupt nicht die Bedeutung von tradierter Kultur und ihrem Anteil an der Identität geschmälert werden, aber die authentische Existenz erschöpft sich nicht in dieser.
An dieser Stelle wäre es vielleicht von Vorteil, auf gewisse Schichten des authentisch gebliebenen Volks und auf das Volkstümliche zu hören anstatt auf Philosophen. Dem entgegen aber sagt Dugin, daß die Vierte Politische Theorie zwar für die Sache aller Völker kämpft, aber sie ist nicht für die Menschen gemacht. Sie ist ein Aufruf an die intellektuelle Elite jeder menschlichen Gesellschaft. Diesmal kann uns das Volk nicht helfen. Diesmal müssen wir den Menschen helfen.
Die volkstümliche Phänomenologie „sage, wie es ist“ ist noch die sicherste Methode, den authentischen Kern freizulegen. Der Intellektuelle kann noch einiges vom Volk lernen, wenn er ihm aufs Maul schaut. Da ist keine Spur von Psychojargon und ähnlich technischer Sprache zu hören. Die Technizität der Humanwissenschaft ist völlig unbrauchbar. Das Philosophieren – in seinem Abstand zum Sein und seinem Umgang mit sich selbst als Objekt – ähnelt der Technik. Erde und Mensch werden im Neolithikum zu Objekten und Maschinen. Die Technik ist der absolute Feind des Menschen.22
Wenn Biologie – die Lehre vom Leben –, dann muß dieses Leben existentiell gesehen werden und nicht chemisch. Wenn Soziologie, dann sollte neben der Verkehrsform des Menschen (die Rolle des Einzelnen in der sozialen und politischen Struktur) auch wieder die Naturalform Geltung finden.
So sehr die Intellektuellen auf das Volk hören sollten, um sich zu erden und sich der Normalität und dem gesunden Menschenverstand anzuschließen, so sehr wird aber auch das Volk von der Avantgarde lernen, wenn es darum geht, wie sehr man zu seiner wahren Person stehen kann. Hier hat die Elite wiederum eine Vorarbeit geleistet. Im Idealfall werden wir von einer Wiedervereinigung von Volk und Philosophie (Post-Philosophie) sprechen: zu einer Einheit, wie es sie in den Alten Zeiten gegeben hat.
Vielleicht. Wir wissen es ja nicht, und wir brauchen es auch nicht zu wissen. Wir können uns von der Tradition und von vormodernen Quellen oder deren Interpretation inspirieren lassen, von der „traditionellen Gesellschaft“, die entweder überhaupt keine Geschichte kannte oder die sie gemäß ihren Riten und Mythen der „ewigen Wiederkehr“ versteht, wo man gleich im Hier und Jetzt bleiben bzw. die Nach-Geschichte einleiten kann. Die traditionalistische Philosophie lehnt die Theorien der „Evolution“ und des „Fortschritts“ ab.
In einem anderen Kontext mahnt Dugin zurecht, niemals das „Hier und Jetzt“ anzubeten.Es gilt, eine Balance, ein Sowohl-als-auch aus „Hier und Jetzt“ und Kultur und Geschichte zu finden, eine Art Archäomoderne: Fortschritt und Tradition, Beständigkeit und Flexibilität, Loyalität sowohl gegenüber der Vergangenheit als auch gegenüber der Zukunft.
Der Orientierungspunkt in dieser Balance sollte die unverletzte und unbeschnittene Ganzheit des Subjektes sein, vor allem die der Kinder. Wir haben die „absolute Kulturschwelle der Seßhaftwerdung des Menschen im Neolithikum“ (Arnold Gehlen) überschritten. Seither hat sich Schmerz in unseren Seelen angesammelt, der tausend Jahre braucht, um abzufließen. Die Wurzeln des Übels sind zu tief. Geschichtlich gesprochen muß die Kritik am Great Reset die Kritik an den bereits stattgefundenen Great Resets mit einschließen.
Mit Herman Wirth und dem Reichianer James DeMeo (Saharasia-These – die Geopolitik des seelischen Elends) sollten wir im Namen von Einfachheit, Natürlichkeit, Schönheit und Lebendigkeit das präneolithische Matriarchat als die uns entsprechende Mikrogemeinschaft in Erwägung ziehen, vor allem im Namen der Beendigung der „tausendfachen Zerspaltenheit des Seins“ (Karl Richter). Herman Wirths positive Einschätzung des Matriarchats ist hochinteressant und verstärkt die Sympathie für Bachofen.23
Asien präsentiert sich uns hier zwiespältig: einerseits gingen von Asien die Stürme über das prä-indogermanische Europa aus und indogermanisierten es – insofern löst es Skepsis und sogar Ängste aus. Andererseits hat dort das Präneolithische überlebt und kann uns zur Anschauung und als Vorbild dienen.
Dominik Schwarzenberg sieht in seiner Betrachtung Rußlands eine Gegenüberstellung von „etatistischem Vaterland (manche Slawophile des 19. Jh., manche Nationalbolschewisten, Liberale, manche Monarchisten, manche de-Facto-Faschisten. Für Assimilation der Minderheiten. Zentralstaat.) und reichischem Mutterland (Neoslawophile, manche Nationalbolschewisten, manche Monarchisten, politisch Religiöse. Gegen Assimilierung der Minderheiten, Russen nur als Träger einer missionarischen Reichsidee. Dezentraler Staat.)“24
Wie dem auch sei: In der Gesellschaft, die sich herausbilden soll, sollte der Mensch die Freiheit haben, seine Menschenwürde, seine Identität, sein Wesen und seine Ganzheit zu bewahren. Wir müssen auch die Strukturen bewahren, ohne die sich eine individuelle Persönlichkeit nicht entwickeln und verwurzeln kann.
Unverletzlichkeit und Autonomie der Person geht einher mit der Autonomie der Kollektive, die laut Dugins wunderschöner eurasianistischer Vision der zukünftigen Welt in diesem Buch größtmöglich sein wird.
Die alte, zentralisiert-unipolare Welt mit ihrem einzigen, satanischen Hirten zur reinen Versklavung aller Völker mittels Atomisierung – der verwüstendste aller Wüstenstürme, inakzeptabel, unerträglich –, sie geht unter.
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1 Alexander Dugin: What does Russia’s break with the West mean? https://vk.com/club198683294?w=wall-198683294_1091
2 Siehe dazu auch: Peter Töpfer: Alexander Dugin, das Große Erwachen und das Radikale Subjekt – die libertäre Linke meldet sich: bereit! Zeitgeschichtliche Ergänzung und Zweite Hälfte des Doppel-Essays „Kierkegaard/Dugin“, http://blog.peter-toepfer.de/alexander-dugin-das-grosse-erwachen-und-das-radikale-subjekt-die-radikale-libertaere-linke-meldet-sich-bereit/
3 Alexander Dugin: What does the Russia’s breakup from the West’s Means? 27.02.2022 https://theradicaloutlook.com/why-russia-break-ties-with-west/
5 https://youtu.be/DTyzGdg_8OI?fbclid=IwAR32rTmHBEK-2ph0QT4MR2aNIeLNHkTmYabEpVBPt7HGsZCSugKRb6diL2E
6 https://www.youtube.com/playlist?list=PLvnPNlSwjOOn2gUcwj8p0Xq7seuI90QMb
8 Alexander Dugin: Heidegger and the ‚Event‘ (Ereignis), 17. März 2022, https://vk.com/club198683294?w=wall-198683294_1219
9 Oper und Drama, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 8207, S. 208
10 Carl Dahlhaus, Richard Wagners Musikdramen, Zürich 1985, Reclam S. 225
11 Wilhelm Reich, The Murder of Christ, Neu Jork 1953; deutsch: Christusmord, Freiburg im Breisgau 1978, S. 307
12 Elsworth F. Baker, Man in the Trap, Neu Jork 1967; deutsch: Der Mensch in der Falle, München 1980, S. 270
13 ebenda, S. 243
14 ebenda, S. 271
15 Peter Töpfer: Sören Kierkegaard, Post-Existenzphilosophie und Tiefenwahrheit. Entstehung von etwas aus dem Nichts, von Da-Sein aus dem Nicht-Sein. Eine Einführung in die Tiefenwahrheit in drei Teilen, Video-Version: https://youtu.be/LN4VGkbIZAA, Text-Version: http://tiefenwahrheit.de/einfuehrung/soeren-kiergegaard-post-existenzphilosophie-und-tiefenwahrheit/
16 Reinhold Oberlercher, Lehre vom Gemeinwesen, Berlin 1994, S. 88
17 Die Emotionelle Pest. Der verdrängte Christus, Band 2: Das orgonomische Testament, https://www.orgonomie.net/hdochrist2.pdf
18 Alexander Dugin: Heidegger and the ‚Event‘ (Ereignis), 17. März 2022, https://vk.com/club198683294?w=wall-198683294_1219
19 Eurasianism as Philosophy (What is Philosophy?), https://t.me/Dugin_Aleksandr/2338
20 Peter Töpfer: Hölderlin, Post-Philosophie und Tiefenwahrheit (Video): https://youtu.be/b4xYv7wC1gs
21 https://www.facebook.com/agdugin/photos/a.10154312708817602/10158858363292602/?type=3, vgl. Robert Musil, Genauigkeit und Seele.
22 Alexander Dugin: Technology is the absolute Enemy of Man, https://katehon.com/en/article/technology-absolute-enemy-man
23 Alexandr Dugin: Herman Wirth, https://www.facebook.com/agdugin/posts/10158847623952602; siehe auch Alexandr Dugin: Herman Wirth: Runes, Great Yule, and the Arctic Homeland, https://eurasianist-archive.com/2017/04/13/herman-wirth-runes-great-yule-and-the-arctic-homeland/amp/ und Herman Wirth’s Theory of Civilization, https://eurasianist-archive.com/2019/01/04/herman-wirths-theory-of-civilization/?fbclid=IwAR0VxoPeBDUba_pQAMfav3uKZnZq03A7I74lOjhYuXBLB0s6IJrPq_No_uA
24 https://gegenstrom.org/dominik-schwarzenberger-putin-der-westen-und-wir-fuer-eine-dritte-position/