Gestern jährte sich zum hundertsten Mal der Todestag von Walther Rathenau. Er wurde am 24. Juni 1922 von nationalistischen Fanatikern ermordet, die ihm seine jüdische Familienherkunft und seine „Erfüllungspolitik“ gegenüber den Siegermächten des Ersten Weltkrieges vorwarfen. Nichts ist falscher: Rathenau hatte sich während des Krieges wie kaum ein anderer darum verdient gemacht, alle Rüstungsanstrengungen des Reiches zu konzentrieren, ihre Effizienz zu steigern und die Auswirkungen der englischen Seeblockade so gut als möglich abzufedern. Ohne die von ihm angeregte Schaffung eines eigenen Amtes für die Bewirtschaftung kriegswichtiger Rohstoffe wäre Deutschland vermutlich bereits 1914/15 in eine Rohstoffkrise geraten. Im weiteren Verlauf des Krieges setzte er sich unter anderem für die Deportation belgischer Zivilisten zum Einsatz in der deutschen Kriegswirtschaft ein und lehnte 1918 sogar den Waffenstillstand ab. Für die Zukunft schwebte ihm die Schaffung einer unter deutscher Führung geeinten mitteleuropäischen Wirtschaftszone vor – ein Projekt, das während des Zweiten Weltkrieges erneut auf die Tagesordnung kam, als über die Nachkriegsordnung nach einem deutschen Sieg diskutiert wurde.
Eigentlich war Rathenau Liberaler. Unter dem Eindruck des Krieges rang er sich aber zum planwirtschaftlichen Konzept einer „Gemeinwirtschaft“ durch, die auch nach dem Krieg die Wirtschaftsordnung prägen sollte. Die Sozialdemokraten lehnten das Projekt bezeichnenderweise ab. Es inspirierte später den „Kriegssozialismus“ Lenins – aber noch viel mehr das deutsche „Rüstungswunder“, das der spätere NS-Rüstungsminister Albert Speer ab 1942 möglich machte, indem er die deutsche Kriegswirtschaft unter Beibehaltung ihrer privatkapitalistischen Strukturen strenger staatlicher Lenkung unterwarf.
Sein größter Coup gelang Rathenau als Außenminister der Weimarer Republik, als er im April 1922 die Weltöffentlichkeit mit dem Rapallo-Vertrag mit Sowjetrußland kalt erwischte: er eröffnete dem besiegten Deutschland zumindest im Osten wieder ein erhebliches Maß an Bewegungsfreiheit und machte eine jahrelange fruchtbare Kooperation mit der Roten Armee möglich, von der noch die Wehrmacht erheblich profitierte.
Das alles hinderte eine Handvoll nationalistischer Auftragsmörder nicht, Rathenau am 24. Juni 1922 während einer Dienstfahrt zu ermorden. Es handelte sich zweifellos um eine der dümmsten, verbohrtesten Aktionen, die der deutschen Rechten je gelungen ist – und man kann mit guten Gründen die Frage nach ihren Hintermännern stellen. Die einschlägigen anglo-amerikanischen Hintergrundkreise versuchten schon damals alles zu sabotieren, was Deutschland und Rußland einander näherbringen konnte. Rathenaus Mörder – Offiziere, Burschenschafter – könnten sich getrost mit heutigen „nationalistischen“ Ukraine-Unterstützern die Hände reichen, deren irrer Russenhaß nur den Transatlantikern in die Hände arbeitet.
Ich habe Rathenau, der ein blitzgescheiter Kopf und darüber hinaus ein glänzender Schriftsteller war, nicht zuletzt wegen seiner eiskalten Rationalität immer geschätzt. Obschon Preuße durch und durch, war ihm jede schwarzweißrote Sentimentalität wohltuend fremd. Es gab für ihn keine Denkverbote. Die deutschen Kolonien lehnte er – wie Bismarck – als unwirtschaftlich ab. Sein Überraschungsvertrag mit dem international geächteten Rußland ist heute so aktuell wie nie zuvor. Rathenau, der Preuße, der Jude, der Politiker, war vor allem ein großer deutscher Patriot. Manche überfordert er bis heute.
(25.06.2022)
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