Karl Richter: China und das Ende des Westens (17.10.2022) 

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Die Welt erlebt gerade einen Polsprung, was die globale Machtverteilung angeht: der Westen geht, irgendetwas Anderes kommt. Nach Lage der Dinge spielen Mächte wie Rußland, China und Indien dabei eine maßgebliche Rolle, während Uncle Sam künftig nicht mehr die erste Geige spielen wird. Eine Entwicklung, die in jeder Beziehung zu unterstützen ist.

Wenn jemand wie der chinesische KP-Chef Xi Jinping, faktisch der Staatschef seines Landes, deutlich wird, sollte man genauso gut hinhören wie bei Putin. Die beiden sind keine Sprüchemacher und unterscheiden sich dadurch von den Luftpumpen in Brüssel, Berlin und Washington. Es könnte jetzt spannend werden. Die Wiedervereinigung Taiwans mit China gehe nur die Chinesen etwas an, stellte Xi auf dem Parteikongreß der KPChi am Sonntag klar. Ins Bild paßt, daß Peking kürzlich alle Chinesen in der Ukraine dringend zum Verlassen des Landes aufgefordert hat. Ins Bild paßt auch, daß westliche Propagandamedien wie die „Bild“-Zeitung neuerdings gegen Xi in gleicher Weise hetzen wie gegen Putin. Heißt: der Mann macht etwas richtig.

Das Geschehen spielt sich auf mehreren Ebenen ab. Die politisch-militärische ist nur eine davon, die ökonomische eine andere. Inzwischen – aber eigentlich schon seit geraumer Zeit – läßt sich nicht mehr ausblenden, daß sich mit der BRICS-Gruppe (Brasilien, Rußland, Indien, China, Südafrika) ein neuer ökonomischer Großblock formiert, der sich als „Gegen-G7“ versteht. Die Hauptbeteiligten, vor allem Rußland und China, haben die Zeit gut genutzt, um auch rein technisch die Integration der Teilnehmerländer und weiterer Partner voranzutreiben; tatsächlich ist die russische Alternative zum amerikanischen SWIFT-Abrechnungssytem, das MIR-Zahlungssystem, inzwischen im Einsatz und wird von einer wachsenden Reihe von Ländern genutzt. Parallel dazu gehen auch immer mehr Partner davon ab, ihre Energiegeschäfte (Öl, Gas) in Dollar abzuwickeln – was diesen für immer größere Teile der Welt überflüssig macht. In Verbindung mit den zunehmenden Erschütterungen, denen die westlichen Wirtschaften – völlig selbstverschuldet!! – ausgesetzt sind (Inflation, Energiemangel etc.), kommt das der westlichen Dollar-Weltökonomie alles sehr ungelegen. Man kann zurecht die Frage stellen, ob die unverhohlene Eskalation, die der Westen in der Ukraine betreibt, nicht eine unmittelbare Folge der vom Kollaps bedrohten westlichen Finanzwirtschaft ist.

So oder so beansprucht die Formierung des BRICS-Blocks aber längere Zeit; es ist eher eine Sache von Jahrzehnten als von Jahren. Dennoch: BRICS ist gut im Kommen und wird bereits als Konkurrenz wahrgenommen. Der Ukraine-Krieg forciert die Entwicklung. Für den Westen ist der Zug tendenziell abgefahren.

Schauplatz Taiwan: China ist normalerweise ein zurückhaltender, außerordentlich behutsam agierender Akteur. Ich würde meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, daß Peking die Taiwan-Frage schon in nächster Zukunft anpackt – aber ich kann mich täuschen (und hätte im Februar auch nicht mit dem russischen Angriff gerechnet). Die chinesischen Vorbereitungen sind eigentlich noch nicht abgeschlossen. Im Augenblick fehlt es der chinesischen Volksmarine noch an einer größeren Anzahl der erforderlichen Landungsschiffe und Truppentransporter, die erst bis 2027 zur Verfügung stehen sollen. Auch ansonsten ist die chinesische Rüstung bei allen beachtlichen Fortschritten noch längst nicht so weit, daß Peking von sich aus die Konfrontation mit den USA suchen würde.

Aber: möglicherweise analysiert man in Peking die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die westlichen Streitkräfte. Nicht nur die EU-Armeen „kannibalisieren“ sich durch die exzessiven Waffenlieferungen an die Ukraine in bedrohlichem Ausmaß. Schon vor Monaten warnte der Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, Kujat, eindringlich davor, durch die Lieferungen die eigene Verteidigungsfähigkeit massiv zu gefährden. Unabhängig davon sickerte erst dieser Tage aus dem Bundesverteidigungsministerium durch, daß die Bundeswehr im Ernstfall nur über Munition für zwei Tage (!!) verfügen würde. Aber selbst in den USA werden die Warnungen vor leeren Munitionslagern und drastisch zurückgegangenen Beständen an Flug- und Panzerabwehrwaffen (Stinger, Javelin) immer lauter. Bekannt ist, daß fast 900.000 Granaten für die 155-mm-Haubitze M777 geliefert wurden – jetzt muß das Pentagon in Südkorea und Kanada um Auffüllung der Bestände betteln.

Will sagen: eigentlich ist die Gelegenheit günstig. Der Westen einschließlich der USA ist in der Ukraine voll involviert und gelangt partiell bereits an seine Grenzen. Soll man unter diesen Umständen warten, bis der Krieg in der Ukraine auf die eine oder andere Weise beendet wird und die NATO eine Verschnaufpause bekommt? Zumal die Biden-Regierung erst dieser Tage hat durchsickern lassen, daß man Taiwan vorsorglich mit Milliardengeldern aufzurüsten und zu einem riesigen Waffenlager à la Ukraine zu machen beabsichtigt. Was passiert, wenn man es dazu kommen läßt, führt der Ukrainekrieg deutlich vor Augen, Peking wird seine Lehren daraus ziehen.

Hinzu kommt der Trumpf, daß China (ab November auch Rußland) bereits Langstrecken-Hyperschallraketen – die atomar bestückbar sind – in seinen Arsenalen hat, die USA aber noch nicht. Unter diesen Umständen ist fraglich, ob Washington im Konfliktfall die atomare Karte ziehen würde. Schon der konventionelle Preis für ein militärisches  Engagement wäre hoch – China verfügt mit seinen DF-21- und DF-26-Raketen, die als „Flugzeugträger-Killer“ gelten, sowie dem in den letzten Jahren errichteten Vorfeldglacis im Südchinesischen Meer inzwischen über gute Möglichkeiten, die US-Trägereinheiten auf Distanz zu halten. Man kann mit guten Gründen bezweifeln, ob Washington dieses Wagnis einzugehen bereit ist und wegen Taiwan den nuklearen Schlagabtausch riskiert.

Vor uns liegt eine interessante Phase des globalpolitischen Polwechsels. Das Geschehen nimmt jetzt Fahrt auf. Manches spricht dafür, daß der Abgang des Westens – einschließlich der europäischen Satrapenregime – schneller kommt, als es sich viele vorstellen können. Je eher, desto besser.

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