Michael Kumpmann: Leo Strauss‘ Kritik am „nackten Leben“ im Liberalismus 2.0 (09.12.2021)

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Leo Strauss

In meinem letzten Artikel wurde Leo Strauss‘ Verhältnis zu Vernunft und Religion beleuchtet. Der zweite Teil beschäftigt sich mit seiner These von „Ancients“ und „Moderns“, dem Verfall des Liberalismus und wie sich diese These auf Dugins Konzept des „Liberalismus 2.0“ anwenden lässt.

Dazu muss vorher aber gesagt werden, dass Strauss einen mehr als seltsamen Liberalismusbegriff benutzt. Er sieht den Liberalismus nicht als Erste Politische Theorie der Moderne, die durch die Aufklärung und protestantische Einflüsse entstand, vielmehr erachtet er die gesamte europäische Philosophie als “liberal”, angefangen bei Platon und Aristoteles. Neuere Begründer des Liberalismus, wie John Locke und die meisten anderen Liberalen der Gegenwart, kritisiert Strauss hingegen massiv als Verräter an der liberalen Idee. Insbesondere in Zusammenhang mit der Tatsache, dass Dugin den Liberalismus zu Recht kritisiert, und gleichzeitig eine Rückkehr zu Platon fordert, wirkt Strauss‘ Ansatz ziemlich skurril. Trotzdem bietet er einige interessante Erkenntnisse.

Für Strauss ist der eudaimonische Ansatz der klassischen Humanisten (von Strauss als “Ancients” bezeichnet) der antike Kern des Liberalismus. Dabei vertritt er einen positiven Freiheitsbegriff: Freiheit bedeutet nicht, dass man alles machen darf, was man will, sein Leben wegwerfen kann, den Tag nur mit Saufen, Junk Food, Trash TV, Pornos etc. verbringen darf. Diese “Freiheit” ist eines Menschen nicht würdig und degeneriert ihn nur. Stattdessen dachten die klassischen Humanisten, dass der Mensch eine Art “göttlichen Funken” besitzt, der es ihm erlaubt, zum Großen zu streben. Der Mensch ist nicht perfekt, sondern ein Wesen mit Schwächen und Fehlern, jedoch kann er seine Fehler erkennen, nach jeder Niederlage neu aufstehen, sich immer größeren Lasten und Schwierigkeiten stellen, um zur bestmöglichen Version seiner selbst zu werden. Und selbst wenn er einmal scheitert, ist dies immer noch besser, als es nie versucht zu haben. Die positive Freiheit  ist notwendig, damit der Mensch genau so ein Leben führen kann. Und nur durch dieses Leben kann der Mensch frei sein. Ein Leben ohne Probleme und Schwierigkeiten, wo man als sprichwörtliche Made im Speck einfach alles bekommt, was man will, ist keine echte Freiheit.

Laut Leo Strauss war diese Eudaimonia das, was den Liberalismus gut gemacht hat, aber der Verfall und Untergang des Liberalismus setzte ein, weil liberale Philosophen, angefangen mit Macchiavelli, Hobbes und John Locke, anfingen, sich von dieser Idee zu verabschieden. Man dachte, dass es sei falsch sei, Ideale und Ansprüche an die Menschen zu haben, und sollte den Menschen als grundsätzlich schlecht und verdorben akzeptieren.

Dadurch opferten Liberale die Idee von Tugend, Eudaimonia und Mut und kamen zum neuen Ideal des “nackten Überlebens”. Und dieser Paradigmenwechsel führte dazu, dass man die Moral umdefinierte. Die Moral bestand nun nicht mehr darin, nach dem bestmöglichen Leben zu streben, sondern moralisch war auf einmal alles, was das Überleben des Individuums und des Staates sicherte. Für Hobbes hatte der Mensch fundamental keinen größeren oder höheren Wunsch, als einfach nur zu überleben. Und daraus entstand dann auch das Konzept der Menschenrechte, welches die Moral auf den Stehsatz “Mach was Du willst, aber störe und gefährde andere Menschen nicht dabei!” reduzierte.

Diese Hinwendung zum “nackten Überleben” war laut Strauss jedoch die Keimzelle des Totalitarismus.

An Leo Strauss‘ These, dass der (wahre) Liberalismus an der Idee des „reinen Überlebens“ zu Grunde ging und totalitäre Ideen „gebar“, ist natürlich mittlerweile makaber, dass Giorgio Agamben, ein weiterer Schüler Carl Schmitts, sagt, dass eben dieses „nackte Leben“ das Paradigma hinter der „Coronadiktatur“ ist. Vor über 50 Jahren warnte ein Philosoph, dass wegen der Idee des „nackten Überlebens“ die Idee einer freien Gesellschaft stirbt. Und im Namen genau dieser Idee haben wir jetzt Kontaktverbote, Maskenzwang, Überwachungsmaßnahmen, Zensur von kritischen Wissenschaftlern wie Sucharit Bhakdi, Polizeigewalt gegen Demonstranten, und bestimmte Politiker diskutieren sogar über „Quarantänelager“.

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Der Witz hierbei ist, dass dies eigentlich genau den unfreiheitlichen Charakter der Lockeanischen Menschenrechtsmoral offenbart. Man hält sonst dieses Mantra von “störe und gefährde andere Menschen nicht” für den Garant der Freiheit. Aber in der Pandemie werden elementare soziale Aspekte des Menschen wie Freundschaft, Liebe, Zärtlichkeit, Berührung, Austausch mit anderen Menschen und so weiter alle zu potenziellen Störungen und Gefährdungen des Friedens, weshalb der Staat, um das “nackte Leben” zu schützen, den Menschen von seinem Nächsten trennt und bei sich zu Hause einzusperren versucht, da er nur so absolute Sicherheit gewährleisten kann.

Laut Strauss führt diese Idee des Nackten Lebens schließlich dazu, dass als politische Tugenden nur noch Komfort, Sicherheit, Reichtum, Wirtschaftswachstum etc. gelten, während Mut und Risikobereitschaft zu Lastern ernannt werden. (Und indirekt führt das zu einer Werteumkehr, wo der “faule und feige Konsumtrottel” dann moralisch scheinbar hochwertiger ist als der mutige Mensch.) Der Militarismus der Sowjets und Faschisten bestand laut Strauss in einer Revolte gegen den liberalen Gedanken des “nackten Überleben”. Man hat die Bereitschaft, für die gute Sache zu sterben, als Antithese zum liberalen “Leben um jeden Preis” gesehen.

Strauss sah aber in der Rückkehr zur klassischen Bildung, die ihren Schwerpunkt auf die Eudaimonia und das Fertigkeiten-lernen als Mittel zur Charakterbildung legt, mehr als das Bemühen um reine Verwertbarkeit und kapitalistische Nützlichkeit. (Ansonsten wollte Strauss aber leider nicht die liberale Demokratie loswerden, sondern bloß von innen her reformieren, um wieder mehr dem antiken Ideal zu entsprechen. Obwohl es sich hierbei nur um einen halbherzigen Ansatz handelt, kann Strauss Idee vielleicht doch dabei helfen, die moderne Welt in der Zukunft ganz zu überwinden.


Strauss‘ Ansatz ist jedenfalls eine gute Erklärung dafür, was Alexander Dugin den „Liberalismus 2.0“ nennt. Man kann genau sehen, dass der Liberalismus seinen Anspruch auf Mut, Exzellenz und Tugend (im aristotelischen Sinne) aufgegeben hat und zu einem falschen Versprechen von Sicherheit verkommen ist. Der Liberalismus 2.0 ist der „vollendete Alptraum“, die Konsequenz des Sturzes in den Nihilismus.


Viele Ereignisse in der Geschichte deuten darauf hin, dass Strauss damit Recht hatte.

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Die Österreichische Schule, Ayn Rand und Franz Josef Schumpeter haben noch den genialen Unternehmer gefeiert, der sich gegen Widerstände durchsetzt und alle Feindseligkeiten wie Widrigkeiten tapfer erträgt, um seine Vision zu verwirklichen. (Bei Jack Parsons und Ayn Rand entsprach eine derartig „mutige“ Geisteshaltung auch indirekt der Männlichkeit, die Männer in den Augen von Frauen attraktiv macht.) Karl Raimund Popper hat demgegenüber alle Illiberalen dämonisiert und den Liberalismus als Schutzwall vor diesen dargestellt. Darin lässt sich schon eine Position der Feigheit erkennen. Aus dem Streben nach Exzellenz wurde die Wahl des kleineren Übels.

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Heute nimmt die Angst im Liberalismus 2.0 Züge einer ausgewachsenen Paranoia an. Bestes Beispiel hierfür ist die Diskussion um angebliche hate speech (Hassrede). Klassische Liberale, die für Homosexualität eintreten, würden in der Öffentlichkeit unter Umständen für Homosexuellenrechte eintreten. Daraus wäre aber kein Anspruch abzuleiten gewesen, dass andere das gut finden. Vielmehr hätte man ihnen entgegnet, dass eine starke und vor allem freie Persönlichkeit es aushalten müsse, dass Lebensentscheidungen negative Konsequenzen nach sich ziehen und dass sie von anderen kritisiert werden können. Heute versucht man aber, Minderheiten vor jeglicher Kritik und jeglichen negativen Konsequenzen ihres Handelns zu schützen. Selbst wenn es um etwas Harmloses wie einen „dummen Spruch“ geht. Und das Recht der Religiösen, Homosexualität abzulehnen, wäre ebenfalls schützenswert gewesen.

In der Sexualmoral ist die Freizügigkeit der Alt-68er und Hippies vollkommen verschwunden und einer allgegenwärtigen Paranoia gegenüber Rape Culture, toxischer Männlichkeit und Ähnlichem gewichen. Jeder potenzielle Sexualpartner (oder auch nur Mann, der es wagt, einer Frau die Tür aufzuhalten) wird erst mal als potenzieller Gewalttäter gesehen, vor dem Vater Staat einen Schutzschirm aufspannen muss. Komplett irreale/virtuelle Formen der Sexualität wie Pornokonsum blühen, da diese keine Partner brauchen und deshalb die einzigen total sicheren Formen der Sexualität darstellen.

Kinder werden im Westen oft von übereifrigen Helikoptereltern vom Spielen an der frischen Luft abgehalten, weil es dort angeblich zu gefährlich sein könnte.

Im Westen besteht die politische Diskussion gefühlt nur noch aus „Oh Gott, wir werden alle sterben“. Egal ob Kernkraft, Schweinegrippe, SARS, Corona, die ach so bösen Rechten, der Klimawandel, Donald Trump, angebliche Schurkenstaaten oder sonstige Horrorszenarien – das Volk wird in Dauerangst gehalten.

Universitätsprofessoren müssen selbst Klassiker der Weltliteratur wie MacBeth jetzt mit Triggerwarnungen versehen, wenn man diese Klassiker nicht sogar am Ende im Namen der Politischen Korrektheit umschreibt oder ganz verbietet. Mittlerweile wird jeder Philosoph, der in Deutschland zwischen 33 und 45 gelebt hat, öffentlich verfemt, weil man Angst davor hat, dass sein Werk irgendwelche versteckten Nazigedanken enthalten und deshalb andere Leute dazu verführen könnte, selbst zu Nazis zu werden.
Es herrscht eine Vollkasko-Mentalität, wo es als gut gilt, sich gegen alle Eventualitäten abzusichern. Und statt im Hier und Jetzt ein gutes Leben zu führen, soll man sich lieber für einen eventuellen Kollaps des Rentensystems vorbereiten.

Produkte müssen von Gesetz her übertrieben mit Warnhinweisen gekennzeichnet werden, selbst wenn diese „Gefahren“ für den gesunden Menschenverstand ersichtlich sind. Aus den USA ist z.B. ein Fall bekannt, wo ein Streichholzhersteller davor warnen musste, dass Streichhölzer entflammbar sind.

Neben dem Mut ist auch die Exzellenz verschwunden. Das erkennt man z.B. daran, auf welche Dinge man laut den Linksliberalen stolz sein soll. Früher sollte man stolz sein, etwas Großes geleistet zu haben, besondere Fähigkeiten zu haben etc. Heute zählt nicht mehr eine Sache, auf die man stolz sein darf. Stattdessen soll man darauf stolz sein, schwul, trans, behindert oder irgendwie geisteskrank zu sein. Wer heute im Leben irgendwas erreicht hat, ist nicht mehr bewunderungswürdig, sondern ein angeblich böser privilegierter Mensch, der bestimmt andere ständig diskriminiert.

Leute, die wie Donald Trump alles riskieren, sich aber nach einer Niederlage selbst wieder nach oben kämpfen, gelten nicht mehr als Vorbild, sondern als gemeingefährliche Idioten.

Dass das nackte Überleben heute zum Ideal wurde, merkte man auch schon vor der Corona-Krise. Bei Liberalfeministinnen und dem deutlich vom Feminismus geprägten Liberalismus 2.0 herrscht ein komischer Freiheitsbegriff vor, der sich allein auf wirtschaftliche Unabhängigkeit und auf das Vermögen, allein seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, konzentriert und deshalb Arbeit und Konsum als das wichtigste im Leben ansieht, während man elementare menschliche Gefühle wie Liebe zum „unwichtigen Luxus“ erklärt, da man diese nicht unbedingt zum reinen Überleben braucht. Dinge wie kreativer Unternehmergeist, von dem „Liberale 1.0“ gerne sprachen, sind auch komplett einem primitiven Materialismus gewichen.

Nachdem wir nun die hauptsächliche Liberalismuskritik von Strauss betrachtet haben, folgt im letzten Teil der Reihe die Besprechung von Michael Anton und seiner von Strauss inspirierten Reaktion auf den „Liberalismus 2.0“.

Erschien zuerst hier