In meinen letzten Texten habe ich mich mit Prof. Dugins Idee des Konflikts zwischen Liberalismus 1.0 und Liberalismus 2.0 beschäftigt. Im Rahmen dessen habe ich mich bisher sehr stark auf die Strömung der österreichischen Schule der Nationalökonomie und der “libertären” Auswüchse dieser Denkrichtung von Rothbard bis Hoppe konzentriert. Aber dies ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt einer Denkschule, bei der es auch einige andere interessante Ideen zu “entdecken” gibt.
In Europa entstand das Konzept des aufgeklärten Absolutismus. Zu seinen Vertretern zählte Hegel, der zwar einige Konzepte der Aufklärung und des Liberalismus gut fand, aber die “jakobinische” Kulturrevolution bändigen und dadurch möglichst viel der früheren Tradition bewahren wollte.
Eine der interessantesten Vertreter dieser europäischen Denkweise ist der Carl-Schmitt-Schüler Leo Strauss. Strauss bezog sich unter anderem auf Schmitt, Nietzsche und Heidegger, durch deren Ideen er einen Weg finden wollte, um die Probleme der Moderne zu überwinden und an die Tradition von “Athen” und “Jerusalem” anzuknüpfen. Dabei sah er den Liberalismus zwar extrem kritisch, sah sich aber dennoch selbst als einen Liberalen an und wollte einen “besseren Liberalismus” schaffen.
Gerade wegen dieser Verbindung aus “Konservativer Revolution” und liberalem Gedankengut, ist Strauss für eine Verbindung zwischen “Liberalismus 1.0” und Vierter Politischer Theorie von großem Interesse.
Strauss hat einen schlechten Ruf als Vorvater der Neokonservativen, jedoch gibt es deutliche Abgrenzungen zwischen ihm und den Neokonservativen. Mittlerweile haben in den USA Rechte, die gegen den Globalismus und die Neocon-Kriegstreiberei sind, Strauss ebenfalls für sich entdeckt. Trumps Mitarbeiter Michael Anton ist ein Vertreter von ihnen. Mittlerweile können wir an US-Universitäten, die vom Denken Strauss‘ geprägt sind, wie etwa in Claremont einen Streit zwischen neokonservativen und trumpistischen Anhängern der Ideen Strauss sehen.
Doch obwohl Strauss einen schlechten Ruf hat, verkündete sein Mund auch viele Wahrheiten, wie etwa die Feststellung, dass Karl Popper unkultiviert und primitiv war.
Obwohl sich Leo Strauss insbesondere in seinem Lebensabend als Liberaler fühlte, kritisierte er viele Aspekte des Liberalismus scharf. Unter seine Kritik fiel das Streben der Liberalen, alles der Logik der Ökonomie zu unterwerfen – auch die Philosophie –, bis schließlich die Wirtschaft zum Mittelpunkt des Lebens wurde. In der Tradition Platons stehend, betrachtete Strauss die Demokratie mehr als ein Übel, anstatt als „die beste aller Regierungsformen“, riet also von ihrer Glorifizierung ab, bestand jedoch darauf, sie zu tolerieren.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass Leo Strauss wie viele alte Liberale 1.0 des 19. Jahrhunderts ein Befürworter der nationalen Souveränität und Gegner der Idee eines globalistischen Weltstaates war.
Ein wichtiger Punkt im Denken von Strauss ist seine Idee des Gegensatzes zwischen „Offenbarung und Vernunft“. Strauss sieht zwei Wege zur Erkenntnis am Anfang einander gegenüberstehen, die miteinander scheinbar in Konflikt stehen. Auf der einen Seite steht die Offenbarung, womit er die Religion meint (welche er mit Jerusalem in Verbindung bringt). Der andere Pol stellt die Vernunft dar, die er in Philosophie und Wissenschaft sowie in Gestalt des antiken Athen verkörpert sieht. Er meint, obwohl beide Seiten die jeweils Andere ersetzen wollen, können sie das nicht, sondern brauchen sich gegenseitig. Strauss geht nun davon aus, dass Aufklärungsphilosophen einen Fehler machten und sich auf die Seite der reinen Vernunft und gegen die Religion und Offenbarung stellten.
Dieser Vorwurf ist nicht neu und wurde sowohl vom deutschen Philosophen Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes, als auch von Isaac Newton in seinen alchemistischen Schriften vorgebracht. Und das stimmt natürlich auch.
Aber es ist wichtig zu bemerken, dass Leo Strauss einer der wenigen liberalen Autoren sind, die genau das bemerkt haben. Sehr viele andere liberale Autoren haben das nämlich ganz anders gedacht. Ayn Rand hat religiöse Leute und Philosophen wie Friedrich Nietzsche als „dumme Mystiker“ verunglimpft. Ayn Rand wurde später zu einer Lieblingsautorin von Anton LaVey, dem Gründer der „Church of Satan“. Und gerade unter den Islamkritikern usw. findet man viele Leute, die geradezu einen Hass auf Religion haben und nach Dostojewskis Idee leben, dass, wenn Gott nicht existiert, sie tun können, was sie wollen, weil niemand sie stoppen kann.
Und selbst wenn es nicht ganz so extrem ist. In vielen „liberalkonservativen“ Parteien wie der CDU gibt es viele Leute, die eine Unterordnung der Religion unter die liberale Ideologie fordern. Und das Ergebnis von solchem Säkularismus ist dann, dass z.B. die evangelische Kirche in Deutschland langsam zum religiösen Flügel der Gender-Ideologie transformiert.
Man muss aber auch sagen, dass Religion und Philosophie in der Antike nicht so wirklich getrennt waren. Konfuzius hat in China auch religiöse Ideen gelehrt, und seine Anhänger standen im regen Austausch mit Buddhismus und Taoismus. In Griechenland gab es die Hermetiker sowie Pythagoras. Und selbst Plato kann man nur richtig im Kontext der Religion verstehen. Aristoteles‘ Ideal des „Philosophenleben“ läuft auch eher auf das Leben als eremitischer Mönch raus als auf einen säkularen Professor an einer Universität. Eine „säkulare“ Philosophie gab es eigentlich in der Antike so nicht. Selbst die Freimaurer, die einen Einfluss auf die Moderne hatten, sehen sich als religiöse Insitution und nehmen normalerweise keine Antireligiösen und Atheisten auf.
Interessant an dem Vergleich mit Hegel, der in dem Bereich eine ähnliche Kritik an Liberalismus und Aufklärung vornahm, ist, dass dieser natürlich mit dem aufgeklärten Absolutismus, Napoleon, Preussen und dem deutschen Kaiserreich (und, da man dort sehr viel Preussisches übernahm, auch indirekt mit Japan) assoziiert wird. Hier muss gesagt werden, dass diese Länder und Ideologien zwar liberal beeinflusst waren, aber dass sie gleichzeitig den Liberalismus möglichst stark einengten und nicht versuchten, traditionelle Institutionen wie die Monarchie abzuschaffen, sondern zu erhalten und zu ergänzen. Viele Länder wie Deutschland und Japan konnten auch mit dem Kapitalismus Traditionen wie die Familie zeitweise schützen (siehe japanische Zaibatsu Familienkonzerne wie Mitsubishi, die sogar zu großen Teilen von Samurais aufgebaut wurden und wo sich die feudale Familienstruktur und Tradition nahtlos fortgesetzt hat, nur in anderer Form). Diese Entwicklungen zeigen, dass Strauss und Hegel Recht hatten und man nie Wissenschaft gegen Religion ausspielen darf, sondern eine Synthese suchen muss.
Warum hat die Trennung zwischen Vernunft und Offenbarung so negative Folgen, wie man an französischer Revolution, Liberaler Traditionsfeindlichkeit etc. gesehen hat?
Dies liegt einmal vor allem daran, weil die Religion Dostojewskis bekanntes Diktum umdreht: “Wenn Gott existiert, ist nicht alles erlaubt.” Gott ist als allmächtiges Wesen die ultimative Grenze. Wenn es einen Gott gibt, dann kann die Wissenschaft und Philosophie nicht gegen ihn ankommen. Gottes Wille geschieht, egal, ob dies dem Menschen passt, oder nicht. Der Weise kann die Wahrheit über die Welt nur entdecken. Er kann die Wahrheit der Welt nicht neu schaffen.
Wenn Gott nicht existiert, dann gäbe es niemanden, der den Menschen aufhalten kann. Jede Struktur der Welt wäre beliebig veränder- und rekombinierbar. Egal, ob durch biologische Methoden wie Eugenik oder Gentechnik oder durch kulturelle Methoden wie Psychologie, postmoderne Dekonstruktion, Erziehung usw.
Alles, egal ob Geschlecht, Wille, persönliche Wünsche eines Menschen, Spezies und so weiter, wäre modifizierbar.
Und hier liegt auch der Irrglaube vieler Liberalkonservativer begraben. Viele Liberalkonservative wie Thilo Sarrazin, die US-amerikanische Human-Biodiversity-Bewegung u.v.m. glauben, durch den simplen Verweis auf die Biologie könne man die Postmodernen wie Judith Butler etc. besiegen. Das ist aber vollkommen falsch. Der Verweis auf die Biologie würde eher dazu führen, dass man das Geschlecht nicht durch Dekonstruktion, sondern durch Gentechnik überwinden will. Einzig der Glaube an eine göttliche Ordnung in einem Kosmos kann dieser Entwicklung einen Riegel vorschieben.
Dies ist ein wesentlicher Punkt im Denken Strauss‘: Die Überlieferung bildet die wahre Grenze der Vernunft. Die Religion zeigt, dass man die Welt nicht beliebig umgestalten kann und man es auch besser nicht versuchen sollte. Traditionelle Lebensweisen haben einen Sinn und können nicht beliebig im Namen des “Fortschritts” modifiziert werden.
Schließlich lehren Religionen uns auch das “Memento Mori”, dass Verfall und Endlichkeit ein Teil dieser Welt sind und keine noch so große Vernunft das ändern kann. Man kann noch so rational und vernünftig leben und alle Gefahren vermeiden, irgendwann holt einen der Tod. Nur: Es ist besser, zu sterben, nachdem man sich eine Familie, eine Liebe und ein Vermächtnis aufgebaut hat, als ohne all das einsam und allein zu sterben. Zu viel Vernunft und Gefahrenvermeidung sorgen nicht dafür, dass man nicht stirbt, sondern das man einem sinnlosen Tod zum Opfer fällt.
Viele traditionelle Werte wie Familiensinn, aber auch das westliche Streben nach Exzellenz, Tugend und Thymos, welches Leo Strauss besonders am Herzen lag, sind eine Möglichkeit für den Menschen, mit seiner Endlichkeit umzugehen. Die antiken Griechen versuchten auch deshalb, ein möglichst gutes Leben zu führen und zur bestmöglichen Version ihrer selbst zu werden, weil sie wussten, dass das Leben irgendwann endet und man sein Leben deshalb nicht verschwenden sollte.
Wie Strauss selbst aber feststellte, kann die reine Vernunft meist keine anderen Ziele und Werte hervorbringen als das bloße, nackte, möglichst lange Überleben (oder die Erfüllung persönlicher Interessen, wie beim Utilitarismus). Jedoch besteht hier die Gefahr, in einen sinnlosen, tierischen Hedonismus abzugleiten und schließlich einen jämmerlichen, sinnlosen Tod zu sterben.
Nach diesem Vorgeplänkel über Leo Strauss und seine Meinung, dass man sowohl Religion als auch Vernunft gleichwertig braucht, wird sich der nächste Teil eher um den Kern von Strauss‘ Denken und seine Meinung zum Thema Liberalismus drehen.