Thomas Teufel: Der Kommunitarismus als Neuverwurzelung des Menschen (26.12.2022)

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Thomas Teufel, Kommunitarismus, Sinnkrise, Individualismus, Charles Taylor, Alexander Dugin, Vierte Politische Theorie, Eurasianismus, Multipolarismus,

Vorwort

Im heutigen Zeitalter der zerstörten Bindungen und einer zunehmenden Sinnkrise des Menschen, die aus einem überhandnehmenden Individualismus herrührt, stellt sich die Frage nach Alternativen. Vor allem Europa, welches durch den „Westen“ aller seiner grundlegenden Determinanten der Orientierung beraubt wurde, leidet an einer um sich greifenden Leere. Eine Antwort auf diese Frage nach Alternativen suchte die kommunitaristische Bewegung. Der Kommunitarismus sah als Alternative zur Idee einer Gesellschaft des Vertrages die Idee einer Gemeinschaft, die sich auf tiefer gehende geteilte Werte und Ziele beruft. Die kommunitaristische Kritik stammt vorwiegend von Denkern wie Charles Taylor (1), sie kam aber auch über Denker wie Alain de Benoist als Urgestein der „Nouvelle Droite“ in die neurechte Bewegung. Die Besinnung des Menschen ist jedoch ohne eine spirituelle Wende undenkbar. Dem Zeitgenossen fehlt jeder sinngebende höhere Horizont. In diesem Artikel soll daher neben der Bewegung des Kommunitarismus auch das Feld der Religion erwähnt werden.

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Die ewigen Ideen und deren Verfälschung

Die erste Frage lautet also, wie kommt man aus dem heutigen Zustand der Verflachung des Menschen und der Verkümmerung des Sozialen heraus, wie sie bereits Denker wie Durkheim (Anomie-Theorie) erkannten? Ein erster Ansatz ist ein platonischer: Es gibt gewisse Universalien in Form von Ideen, die sich mehr oder weniger klar in den Kulturen als „Wegmarken“ finden lassen. Diese Ideen bestehen als sinnstiftende Sehnsüchte heute noch, sie werden nur verschoben und überlagert durch ihnen fremde Scheininhalte und daraus gefolgerter Assoziationen. Hier sind vor allem die Sozialmoden und auch eine Übersteigerung isolierter Teilwahrheiten zu nennen. Dies zeigt sich in der Postmoderne durch rein künstliche Identitäten, die keinen Halt geben können, sondern eine reine Sache des Konsums und der Mode darstellen. Ebenso erkennt man dies aber bereits in der davor liegenden Epoche der Moderne, die als eine Überbetonung von Teilfeldern der Wissenschaft eine simplifizierte Weltauffassung in Form des Szientismus ausbildete. Claude Levi-Strauss (2) ging von gewissen Codes der Wahrnehmung aus, worauf der menschliche Geist ordnend reagiert und somit die Dinge um sich herum in einen ganzheitlichen Zusammenhang stellt. Ebenso nannte er aber die Möglichkeit einer künstlichen Verfälschung dieser Codes, in dem moderne Ideologien fortan den Mythos und den direkten Zugang okkupieren. Die grundlegenden Inhalte sind Leitbilder wie zum Beispiel die Idee der Schönheit, die durch die Form scheint und im Rahmen einer diesen fremden Unterhaltungs- wie auch Schönheitsindustrie überlagert wurden. Dies kam zu einem Aufbau von sozialen Fetischen, die wahre Anliegen mit fremden Inhalten verdecken und diese in einen Kontext der jeweiligen herrschenden Hegemonie stellen. Diese Tendenz geht heute so weit, dass man sowohl die Sprache als Verständigungsmittel zwischen Mensch und Welt, aber auch die eigene Kultur verfälscht. Man sieht dies insbesondere bei Formaten wie „Netflix“ und anderen Vorreitern der Cancel Culture, die von Jugend an den Gedankenkreis der Menschen kolonisieren.

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Die sinnerfüllte Gemeinschaft gegen die funktionale Gesellschaft

Die kommunitaristische Kritik wurde in Zeiten der zunehmenden Erosion des Sozialen formuliert. Sie beruft sich dabei – entgegen der Vorstellung einer Gesellschaft des alleinigen gegenseitigen Nutzens, die vorrangig nur das Ego kennt und darum immer auf einen unsicheren Boden baut – auf kleinere Gemeinschaften, die durch eine eigene Vorstellung des Guten und höhere Ziele bestimmt sind. Das Konzept der positiven Freiheit als aktives Tun im Stamm als Erweiterung der Familie ist das Grundkonzept der kommunitaristischen Ethik entgegen der Verlagerung auf einen den Liberalismus eigenen, rein negativen Begriff von Freiheit. Dieser negative Freiheitsbegriff ist gekennzeichnet durch eine sinnentleerte bis direkt nihilistische Konzeption von Freiheit; er verführt den Menschen zu einem reinen Solipsismus der Teilnahmslosigkeit. 

Anstelle der Berufung auf Lockes Vertrag oder Rousseaus Gemeinwillen als zwei der Grundtheorien der modernen Demokratie, beruft sich der Kommunitarismus auf Absolutismus-Kritiker wie Montesquieu. Dieser hatte die Idee des Aufbaus der Ordnung durch eine Schichtung von weitgehend autonomen Körperschaften und deren wechselseitiger Anerkennung in einen über diesen liegenden Staat mit der nötigen zentralen Entscheidungsgewalt. (3) 

Natürlich ist der Kommunitarismus nicht identisch mit den kurzlebigen Pseudo-Gemeinschaften, die im Gefolge der schon erwähnten sozialen Moden entstanden; ebensowenig ist der Kommunitarismus aber eine reine Sammlung isolierter Egos, was eher gerade jener Zustand ist, den dieser an den Ideen Lockes kritisiert. Ebenso wenig ist er jedoch identisch mit pathologischen Formen der Identität, die als reine Reaktion des Verlustes echter organischer Bindungen dienen, wie man sie an manchen kriminellen Banden oder auch in rein von Ressentiment getragenen Strömungen sieht. 

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Johann Gottfried Herder (1744–1803)

Man kann den Kommunitarismus als eine Wiederaufnahme der Kritik von Herder sehen (4), welcher dem Cartesianismus einer rein operationalen Vernunft des isolierten Selbstes, wie es Descartes vertrat, die Idee von Authentizität und wechselseitiger Gebundenheit entgegenstellte. In dieser Gebundenheit zum Gegenüber ist das soziale Selbst etwas Dialektisches und Dialogisches; man versteht sich nur vollkommen als dieses Selbst durch das Andere. Mangelt es an diesem Anderen als einem Gegenüber als Grenze des Selbstes, kommt man zu jener Idee einer stets unerfüllten Suche, welche der Neoliberalismus als Flexibilität verklärt und sich immer mit einem chronischen Narzissmus verbindet. Charles Taylor spricht darum auch den Festen, Bräuchen einen wichtigen Anteil zu. Durch das gemeinsame Erleben in Brauchtum und Fest hat man einen Bruch zu den reinen Funktionen des Alltags hin zu einem erneuernden Erleben einer gegenseitigen schicksalsmäßigen Bindung. Der Mensch ist im engeren Rahmen in einen Raum gestellt, dieser ist nicht sekundär; er ist etwas, worin sich der Mensch einrichtet als Grundkern des heideggerschen „Wohnens“. Seine Welt erfährt der Mensch durch einen höheren Bezug zur Kultur und zur Nähe anderer Menschen. Man kommt dadurch auch zu einer echten Fürsorge für seine nicht nur soziale, sondern auch ökologische Umgebung, da man einen reinen operativen Umgang der Trennung zur Welt mit einer wirklichen Integration in seine Umgebung ersetzt.

Die Religion gegen den Nihilismus

Der größte Widerspruch des heutigen Nihilismus liegt in einer theozentrischen Weltsicht; diese kann engere Kulturkreise durch eine darübergehende Wahrheit als Inhalt versammeln und somit jene Elemente der Gemeinschaften in sich adaptieren, die eine qualitativere Wertigkeit als die der reinen ungeordneten Zufälligkeiten einnehmen. Hierin hat man auch das engere Leben der Gemeinschaften, wie sie die kommunitaristische Kritik erwähnt, wiederum in eine neue dem Egalitarismus ferne Universalität gestellt. Archimandrit Georgios erwähnt dies in seinem Bezug auf die antiken Griechen. Die Griechen waren in ihrem Denken und ihrer Kultur durchaus tugendhafte Menschen, ihnen fehlte aber der höhere sammelnde Kern. (5) Dieser Kern wurde in Christus als Logos und Weg der Befreiung des Menschen gefunden. Hierdurch werden die guten und schönen Züge der Kulturen nicht negiert, sie werden jedoch in einen höheren Kontext gestellt, welcher ihnen einen tieferen Inhalt verleiht.

Wie Seraphim Rose beschrieb, ist eines der größten Probleme der Zeit ihr Materialismus, welcher sich auch durch die austauschbare Unterhaltungskultur zeigt. (6) Diese verblendet den Menschen und macht ihn blind für die Frage nach seinem tieferen Selbst, in dem sie ihn mit den dauernden Getöse seichter Ablenkungen umgibt. Das führt wiederum zur Verdunkelung sowie zur Verkennung des Ziels des Menschen, welches in einem stetigen inneren Wachstum liegt zu einer ihm übergeordneten Wirklichkeit, die nicht nur den Menschen zu einem bewussten freien Wesen macht, sondern auch erst zu einen mündigen Mitglied im Gemeindeleben erhebt. 

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Gegen diesen Materialismus liefern die Religionen einen klaren Halt; sie ordnen den Menschen in eine höhere Gemeinschaft ein und vergegenwärtigen ihm eine vom Gewissensakt und der Nachsicht zum Anderen getragene Ausrichtung des Lebens. Der Mensch, der nicht in der Lage ist, sein Gewissen und eine Liebe zu einem übergeordneten Guten auszubilden, wird zum Sklaven von sämtlichen Suggestionen und Leidenschaften, in dem ihm jeder Richtpunkt im Leben fehlt. Er kommt dadurch zu keiner wahren Freiheit, denn die Freiheit ist zuvorderst auch eine Bewusstheit gegenüber der Welt, ein innerer Reichtum, der sich auch im Politischen durch die gerechten Herrscher manifestiert und nicht eine reine Willkürlichkeit der Impulse. 

Der Grund, warum der heutige Mensch am Zeitgeist leidet, ist der unerfüllte Ruf nach etwas substanziell Übergeordnetem, was der moderne Atheismus nicht bieten kann und auch die sonstigen heutigen Ersatzstücke nicht. Der Mensch leidet an sich und an der Welt immer durch ein Gewissen, durch etwas, was ihn zu stetiger Reflexion ruft und zum Reinwaschen der in ihm liegenden Unordnung. Heute herrscht vor allem in der Jugend eine tiefe Verzweiflung als Folge der Desillusionierung der optimistischen Utopien, wie sie die Moderne bestimmte. Jene Utopien erwiesen sich nur zu oft am Ende als eigentliche Dystopien, wurden sie in Angriff genommen und teilweise oder gänzlich in die Tat umgesetzt. Also gibt sich vor allem die Jugend aus dieser Halt- und Orientierungslosigkeit irgendwelchen obskuren und im Grunde egomanischen Kulten der Selbstfindung in Form des New Age hin, oder auch destruktiven Formen wie dem Drogenmissbrauch und dergleichen mehr. Dies sind Formen einer fehlenden Perspektive, wie sie die Religion bieten kann. Dem zeitgenössischen Menschen fehlt eine Autorität als Antwort auf seine existenzielle Frage. Wenn die Religion ihrem Wesen treu bleibt und nicht der Irre der reinen Anpassung verfällt, wie dies vor allem bei den westlichen Kirchen der Fall ist, erreicht sie den Menschen aus seinem in der Postmoderne sich noch verstärkten Leiden an Sinnlosigkeit. Hierzu muss vor allem aber die Religion von gläubigen Menschen gelebt werden und das ganze Leben erfassen; sie sollte in der Haltung und in den Tugenden, sowie im Beistand wie in der Hinwendung zum Anderen ein Beispiel werden.

Fazit

Man spricht von der Alternativlosigkeit der Lage; man etablierte den Glauben, wenn man schon nicht mehr in der besten aller Welten lebt, so doch in der bestmöglichen. Diese Ansicht ist von einem reinen Zynismus getragen und zeigt den Nihilismus in seiner höchsten Form. Die Folge hiervon ist ein illusionsloser Determinismus der Resignation, der, wenn er auch nicht den Fortschritt zur Schönen Neuen Welt annimmt, doch am Fortschrittsgedanken in einer pessimistischeren Art und Weise verhaftet bleibt. 

Ein Grundkern der Alternative ist jedoch die Idee der Gegenhegemonie, wie sie vor allem auch in der Nouvelle Droite entwickelt wurde. Die Gegenhegemonie fordert eine Revolution in allen Bereichen der Kultur. Der schon erwähnte neurechte Vordenker Alain de Benoist (7) schrieb treffend, man könne kein Gebiet haben von gesellschaftlicher Aktualität, welches einen nichts angeht. Am Beispiel der Neuen Linken zeigte er, dass diese aus einer grundlegenden Weltsicht zu jeder Problematik ihre Ansätze lieferten, wo die Rechte eher in eine reine ablehnende Haltung verfällt und somit nur zu oft indirekt den Zerfall billigte.

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Alain de Benoist, La Nouvelle Droite


Literaturverweise:

1. Charles Taylor – Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?,suhrkamp (2002)

2. Claude Levi-Strauss – Mythos und Bedeutung, edition suhrkamp (1980)

3. „Die freie Monarchie (für Montesquieu ein Pleonasmus, da die unfreie Despotismus ist) hält das Gleichgewicht zwischen einer starken Zentralgewalt und einen ineinander verzahnten System von Behörden und Vereinigungen, mit denen sie sich einigen muß.“ Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, Seite 78, suhrkamp (2002)

4. „Diese Fülle ist aber nicht durch die Addition von Unterschieden zu erreichen, sondern nur durch den Austausch, die communion. Herder gebrauchte das Bild eines Chors: Der volle Reichtum entsteht erst, wenn alle verschiedenen Stimmen zusammengeführt werden und etwas schaffen, das in dem Raum zwischen ihnen existiert.“ Charles Taylor – Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?,Seite 4, suhkramp (2002)

5. „Die Griechen des Altertums zum Beispiel erreichten ein recht hohes Niveau in der philosophischen Betrachtung über das Gute und über Gott. Ihre Philosophie enthielt tatsächlich Keime der Wahrheit, den sogenannten spermatikos logos.“ Archimandrit Georgios – Selbstvergöttlichung: Das Ziel des Menschenlebens, Seite 10, Amazon (2007)

6. „Das Leben ist eine beständige Suche nach ‚Fun‘. Und dies ist jeglichen ernst zunehmenden Sinnes entleert, dass ein Besucher aus irgendeinem Land aus dem 19.Jahrhundert denken würde, er sei auf ein Land von Schwachsinnigen gestoßen, die jegliche Berührung zur normalen Wirklichkeit verloren haben…“ Seraphim Rose – Der Königsweg in der Postmoderne, Seite 54, Edition Hagia Sophia (2017)

7. Alain de Benoist – Kulturrevolution von rechts, Jungeuropa (2017)

8. Reinhold Oberlercher – Lehre vom Gemeinwesen, Verlag der Freunde, Berlin, 1994, Kapitel „Wesen und Verfall Amerikas“, S. 123, zum US-Kommunitarismus insbesondere ab S. 133


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