Peter Töpfer: Das Heilige und das Authentische (17.09.2022)

In meinem Vorwort „Das Radikale Subjekt als Katechon“ zu Alexander Dugins Buch „Eurasische Mission“1 zitierte ich Dugin: „Die Frage nach den Wurzeln bei der Suche nach einer tiefen Identität erinnert an die Begriffe Boden, Raum und Landschaft. Der Boden ist heilig für eine tiefe Identität und die grundlegendste, vegetative Ebene der Seele.“ Daran anschließend kündigte ich eine Video-Reihe zur Rekonstitution des nihilisierten Subjekts und dessen authentische Rückverbindung auf genau dieser grundlegendsten, vegetativen Ebene der Seele mit dem für eine tiefe Identität heiligen Boden an. 

Den 5. Teil dieser Video-Reihe („Dugin Heimat“2) möchte ich hier vorstellen: „Das Heilige (1) und seine Entweihung durch Technik. Authentisch gegen künstlich. Subjekt- gegen objekt-orientiert. Tiefenwahrheit gegen Psychotherapie3

In meinem Text-Vorwort zur besagten Video-Reihe schrieb ich: „Meine Teilkritik an Dugin nun bezieht sich auf den letzten Begriff dieses Zitates: ‚der heilige Boden‘. In diesem sah ich eine Verkürzung, eine Mystifizierung und einen Widerspruch zur ‚grundlegendsten, vegetativen Ebene der Seele‘, da mir ‚vegetativ‘ und ‚heilig‘ widersprüchlich erschienen. (…) Zunächst bejahe ich durchaus das Heilige. Ganz offensichtlich durchstößt das Heilige bereits das Nur-Ideelle in das Vegetativ-Emotionelle hinab; ich bejahe es als Durchgang zu etwas Tieferem und Grundlegenderem.“4

Gleich im 1. Teil der Video-Reihe „Annäherung ans Dorf“ wird unter „Öffnung“ das Heilige bejaht. Ich schrieb aber im Kommentar5 dazu, daß erst die zwischenmenschlich-liebevollen Beziehungen den Boden, auf dem diese stattfinden, heiligen und diese Stelle der Welt – genannt „Heimat“ – beseelen. 

In diesem 5. Video der Reihe „Dugin Heimat“ nimmt nun das Heilige eine noch größeren Raum ein – wie auch im folgenden 7. Video der Reihe („Das Heilige (2)“). 

Das Heilige ist mit starken Gefühlen verbunden. Will man tatsächlich das Heilige als Bedingung und Voraussetzung für eine „tiefe Identität“ (Dugin) und gegen die Entfremdung in Stellung bringen und sieht man es als „die grundlegendste, vegetative Ebene der Seele“, muß man diese Gefühle bejahen und – sollten sie verschüttet sein – wiederentdecken und wieder neu zulassen. 

Bei diesem Entdecken und Zulassen aber spielt das Authentische eine Schlüsselrolle, und genau um den Zusammenhang des Heiligen mit dem Authentischen geht es insbesondere in diesem 5. Teil der Reihe „Dugin Heimat“.

Warum hängen das Heilige und das Authentische so sehr zusammen? Weil, wenn wir uns dem Heiligen nähern, wir es mit der Angst vor Gefühlen zu tun bekommen. Wenn nicht, nähern wir – die wir in einer gefühlsarmen Kultur leben – uns ihm nicht auf authentische, sondern auf oberflächliche, leere oder falsche Art. Wir wollen authentisch sein, aber Authentizität ist ohne Emotion nicht zu haben, und oft werden wir durch Scham und Angst vom Heiligen ferngehalten.

Für Alexander Dugin ist das Authentische das A und O: „Entscheidend ist die Frage nach der Authentizität oder Nicht-Authentizität des Daseins. (…) Die Vierte Politische Theorie beharrt auf der Authentizität der Existenz. Daher ist sie die Antithese zu jeder Art von Entfremdung.“ Einer der zentralen Begriffe im Dugin’schen Denken ist das „authentische Dasein“, und nur von diesem aus erfährt die Dugin’sche Kritik an der „objekt-orientierten Óntologie“ ihre Relevanz.6 

In meinem Vorwort zu seinem Buch „Eurasische Mission“ kritisiere ich ihn aber: „Dugin spricht davon, ‚ein kulturelles und intellektuelles Selbst zu reaktualisieren oder künstlich zu schaffen‘. Das Selbst ist aber im wesentlichen nichts Intellektuelles – und schon gar nicht ‚künstlich zu schaffen‘. Das verstößt gegen die Authentizität. Es soll überhaupt nicht die Bedeutung von tradierter Kultur und ihrem Anteil an der Identität geschmälert werden, aber die authentische Existenz erschöpft sich nicht in dieser.“ 

Obwohl er von der „grundlegendsten, vegetativen Ebene der Seele“ spricht, wird von Dugin das auf der Hand liegende vernachlässigt: das Emotionale. Das Vegetative ist das Emotionale.

Der moderne Mensch, den es jetzt gilt, mit einer „tiefen Identität“ (Dugin) zu versehen, ist nihilisiert, d.h. er ist so gut wie nicht da, hat kein „Dasein“ (Dugin, Heidegger). In meinem Vorwort zur „Eurasischen Mission“ schreibe ich: „Die Nihilisten sind beim Auffüllen des Nichts unverzichtbar. Denn wie soll das Nichts unterwunden und durch das Authentische ersetzt werden, wenn man es vorher nicht anerkannt und durchlebt hat? Aus dem Nichts erwächst die zarte Pflanze des Authentischen.“ 

Gefühle sind authentisch, oder sie sind keine Gefühle. Aber bei der Wiederentdeckung der Gefühle, d.h. bei der Vertiefung der Identität, stößt das Subjekt immer wieder auf Zweifel an seinen eigenen Gefühlen und auf die Frage, ob es authentisch ist oder nicht. Die Annäherung an das Heilige gestaltet sich schwierig, weil es zum Teil noch als künstlich und unauthentisch empfunden wird. Doch dahinter liegen nur Sprechangst und Sprechhemmung, die um so größer sind, je heiliger die Dinge sind. Das Subjekt hat aber letzten Endes in seinem sensorischen Wahrnehmungsapparat einen sicheren Kompaß.

Zur Problematik von Authentizität, Entfremdung, Gefühlen und Zweifeln habe ich einen Aufsatz „Objekt-orientierte Óntologie und Entfremdung. Der verheerende Einfluß der Wissenschaft – insbesondere ihrer Disziplin Psychologie – als Objekt-Orientierung auf das Subjekt“ geschrieben7. Wissenschaft und objekt-orientierte Óntologie sind eine böse Falle, eine große Gefahr und ein im Nichts bleibender Irrgang und Holzweg, wenn es um die Wiederaneignung von tiefer Identität und Gefühlen geht. 

Wie viele andere, so markiert die in diesem 5. Teil der Video-Reihe „Dugin Heimat“ dargestellte Stunde der Tiefenwahrheit einen Übergang von Psychotherapie (objekt-orientiert) zu Tiefenwahrheit (subjekt-orientiert).

Kommentare zum Video „Das Heilige (1)“ bzw. zur Stunde der Tiefenwahrheit vom 22.3.2013:

Einerseits will das Subjekt ein Gefühl des Echten und überhaupt des Daseins entwickeln und versucht dies, indem es von seiner Entfremdung und dann von seinen wenigen Erinnerungen an Echtes in seiner Kindheit spricht und die damit verbundenen Gefühle von Traurigkeit zuläßt. Aber andererseits ist es dermaßen entfremdet, daß es alles als künstlich empfindet – sogar die Dinge, die es ganz offenbar tief empfindet. Das geschieht gleichzeitig und „in einer Brust“. 

Dieses Tief-empfunde ist das einzig verbliebene Echte und von riesiger Bedeutung für das schiere Dasein des Subjektes. Es hat nur eine Chance, zum Dasein zurückzukehren, indem es diese Erinnerung an das wenige Echte in der Vergangenheit in sicher aufsteigen und vermehren läßt und dadurch an Lebendigkeit und Selbstheit gewinnt. Das Geringe aber an diesen Erinnerungen bzw. deren Verkleinerung durch Schmerz und damit durch Verdrängung läßt es künstlich erscheinen.  

Diese Künstlichkeit ist eine große Gefahr; sie würde die besagte letzte Chance vernichten. Deshalb muß das Subjekt darauf aufpassen, daß es so echt wie möglich ist: genau auf sich achtet und in sich hineinspürt und im Namen seiner Existenz nur das dort vorhandene wahrnimmt – als wahr, als echt akzeptiert. 

In seiner Entfremdung ruft es sich den Grund dafür zurück, warum es sich dem Heiligen gegenüber öffnen will. 

Wenn ihm das gelingt, nähert es sich dem, was es aufgrund seiner großen Bedeutung und aufgrund der intensiven Gefühle als „den Schatz“ und „das Heilige“ nennt. Was „das Heilige“ letztlich ausmacht, ist die Liebe der Großmutter. Das Subjekt wird in seinem schieren Überleben als sich selbst bewußte Person von dieser Liebe gerettet. 

Ein gefühlloses und maschinenhaftes Sprechen würde diesem Heiligen nicht nur nicht gerecht werden – es stünde diesem absolut feindlich gegenüber. Jegliches technische und theoretische Herangehen an die Lage und würde am Heiligen vorbeischießen und dieses nicht nur nicht erfassen, sondern auch besudeln, beschmutzen und entweihen und damit endgültig zerstören. Man hat nur einen Schuß – und der muß treffen. „Wahrheit ist ein Pfeil, und das Tor ist eng, durch die er fliegen muß.“ Die Flugbahn dieses Pfeiles wird wesentlich davon beeinflußt, wieviel Zeit, Ruhe und Ausführlichkeit sich dabei genommen wird, von allem so genau wie möglich zu erzählen, darüber zu reden und die richtigen Worte zu finden. Es ist alles andere als ein Schnellschuß, es ist ein Schuß in extremer Zeitlupe. 

Für das Subjekt ist ein Kriterium für das Echte und die Nichtbesudelung des Heiligen das Teilen seiner Empfindungen und Erinnerungen mit seinen Familienangehörigen. Erst wenn dort die Liebe der Großmutter und das Gedenken an sie wieder wach wird, erst dann kann das Subjekt dies auch selbst wieder in sich aufbauen, sich davon erfüllen lassen und eine Selbstheit entwickeln – von dort strahlt die Liebe zurück und bestätigt das Innere des Subjekts. Das Heilige ist nur heilig, wenn alle Beteiligten Anteil daran nehmen. Erst in der Gemeinschaft wird es zum Heiligen. 

Die Liebe der Großmutter strahlt aus der Vergangenheit in die Gegenwart und bestärkt das Subjekt ebenfalls darin, das Gedenken an sie aufrechtzuerhalten. 

Je näher sich das Subjekt der Liebe seiner Großmutter nähert, desto mehr wird das Ausmaß seiner Zerstörung und daß es eigentlich gar nicht leben darf erkenntlich: Es braucht sogar für das Elementarste des Lebens – die Atmung – eine Rechtfertigung. Diese hat das Subjekt nicht. Das Subjekt hat keine Lebensberechtigung und kann nicht in der Welt sein. Es nimmt zwar noch die Dinge um sich herum wahr, aber es kann sich nicht mit ihnen in Verbindung setzen, kann nicht zu ihnen gehören. Das Subjekt ist – soweit es überhaupt da ist – nur absolut von den Dingen und der Welt isoliert da. 

An diese Einsamkeit erinnert sich das Subjekt jetzt und begreift nun, daß das Gefühl der Künstlichkeit daher rührt, daß es keine wirkliche Verbindung und damit keine wirkliche Bestätigung für sein wirkliches Dasein – für seine Echtheit – in seiner Kindheit erfahren hat. Es konnte alles – und damit sich selbst – nur als künstlich empfinden: weil es nichts wirklich Echtes, d.h. Liebes und Lebendiges, um sich herum gegeben hatte – mit Ausnahme der Großmutter. 

Die berechtigte Vorsicht und Ermahnung, absolut ehrlich und echt zu sein und darauf zu achten und aufzupassen, vermischt sich mit der verinnerlichten Bösen Stimme (Mutter), die rabiat jegliches Bemühen um Authentizität als Mist und Unsinn abtut. Jetzt stellt sich heraus, daß Vorsicht und Ermahnung nicht nur der Authentizität, sondern auch der Abwehr der tiefen Wahrheit dient. 

Die Mutter will das Kind vor tiefen, schmerzlichen Gefühlen schützen und bewahren (in Wahrheit aber ihre eigenen Schmerz verdrängen). Das (die Böse Stimme) verinnerlicht das Kind – agiert aber damit nur gegen sich selbst. Hier haben wir es mit etwas Teuflischem zu tun: Etwas vermeintlich Gutes (Schutz, Bewahrung vor Schmerz) ist in Wahrheit etwas Schlechtes (Verdrängung der Wahrheit, Zerstörung des Selbstes). Ein und dieselbe Sache – die Ermahnung, echt zu sein – kann also völlig entgegengesetzten Inhalt haben; das wechselt von einer Sekunde zur anderen. 

Resultat der Verdrängung (des Vergessens) ist das Gefühl der Irrealität und die Spaltung: Das Subjekt weiß einerseits, daß es durch die Straße geht, aber andererseits weiß es das überhaupt nicht: Es darf sich ja in der totalen Bindungslosigkeit und Einsamkeit nicht wahrnehmen. Dieses Nicht-Dürfen kommt einem Seins-Verbot gleich, das sich auf die elementare Vitalität erstreckt: Atem-Verbot bzw. Zwang zur Rechtfertigung des Atmens.

Kritik an der Bösen Stimme, Selbstbehauptungswillen und Wahrheitstreue werden von der erneut verinnerlichten Bösen Stimme als Frechheit und Arroganz verurteilt. Resultat: Völlige Weltfremdheit, keinerlei Verbindung mehr zur Welt, die Dinge der Welt sind bedeutungslos. Das Subjekt gehört nicht mehr der Welt an. Die Welt ist da draußen: eine andere Welt. Zu dieser gehört das Subjekt nicht – keine Zugehörigkeit. 


1 https://www.compact-shop.de/shop/buecher/alexander-dugin-eurasische-mission/

2 https://www.youtube.com/playlist?list=PLvnPNlSwjOOn2gUcwj8p0Xq7seuI90QMb, https://tiefenwahrheit.de/videos/video-reihe-dugin-heimat/

3 https://youtu.be/wQnixpX5I3c

https://rumble.com/v1kd3s5-reihe-dugin-heimat-5.-teil-das-heilige-1-entweihung.html

https://rumble.com/v1kd65b-reihe-dugin-heimat-5.-teil-das-heilige-1-entweihung.html

https://odysee.com/@tiefenwahrheit:1/Dugin-Heimat-5-Heilig-1-bounce-final:2

https://www.bitchute.com/video/R34urCGc9mjD/; Text-Version: https://tiefenwahrheit.de/text-version-dugin-heimat-5-das-heilige-1-und-seine-entweihung-durch-technik/ 

4 https://tiefenwahrheit.de/weitere-texte/text-fassungen-dugin-heimat/text-vorwort-zur-video-reihe-dugin-heimat/

5 https://tiefenwahrheit.de/videos/video-reihe-dugin-heimat/kommentare-zur-video-reihe-dugin-heimt/kommentar-zu-dugin-heimat-1-teil-annaeherung-ans-dorf/

6 Dugin-Zitate im Vorwort zu „Eurasische Mission“, s.o.

7 https://tiefenwahrheit.de/weitere-texte/objekt-orientierte-ontologie-und-entfremdung/