Stefan H. Heuer: Spielt hier jemand Schach? (30.12.2024)

Putin Schach
Schachspieler Putin

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Nein! Natürlich ist das keine Niederlage. Das kann gar nicht sein. Du hast keine Ahnung. Das ist Schach! Putin spielt Schach mit dem Westen. Und der Westen verliert, ganz klar.

Schach, das Spiel der Könige, ist ein edles Spiel. Ganz egal, was die Spieler vorhaben: sie selbst gehen keine Risiken ein. Es sind die Figuren, die fallen. Sie werden platziert, um zu funktionieren. Sie haben keinen eigenen Willen, keinen eigenen Wert. Ihr Wert bemißt sich allein darin, dem Spieler vorübergehend nützlich zu sein. Nichts fällt dem Spieler leichter, als im Sinne der Durchsetzung seiner Strategie einzelne Figuren zu opfern. Bekanntlich spricht man vom „Bauernopfer“. Loyalität gilt nur einseitig, von der Figur zum Spieler. Sollten die Spielfiguren diese Partie überleben (also im Spiel geblieben sein), werden sie abgeräumt bis zum nächsten Spiel. Die Spieler sind vergnügt, die Figuren sind erledigt.

Ja, es mag sein, daß wir tatsächlich ein gigantisches Spiel erleben. Womöglich erleben wir eine Wiederauflage des ‚Great Game‘, wie es das Russische Reich einst mit dem British Empire um Zentralasien gespielt hatte (vgl. https://www.encyclopedia.com/politics/encyclopedias-almanacs-transcripts-and-maps/great-game sowie https://www.thebritishacademy.ac.uk/documents/2491/111p179.pdf). Und vielleicht wurde in dieser Welt tatsächlich nie etwas anderes gespielt als eben jenes Große Spiel der Mächte mit Völkern und Nationen. Heute spielen sie es eben in Syrien (und im Donbass, und in Georgien, Armenien, Moldawien, Kasachstan, Weißrußland, Taiwan), morgen im Iran, übermorgen…?

Drei Wochen nach dem überraschenden Ende der Syrischen Arabischen Republik und der Machtübernahme der vom Westen geschaffenen „Rebellen“ (https://thecradle.co/articles/manufacturing-rebels-how-the-uk-and-us-empowered-hts) von Al-Qaeda, Künstlername: „Hay’at Tahrir al-Sham“ (HTS), sind sowohl Israel als auch die VSA und die Türkei direkt militärisch in Syrien als Besatzer involviert, während Rußland sich augenscheinlich auf seine zwei Militärbasen in Tartous und Latakia zurückgezogen hat und mit den moderaten Kopfabschneidern in Damaskus über den Erhalt der Basen verhandelt. Die Zusammenarbeit einer staatlichen Macht mit Kreaturen, deren Organisation in der Heimat als Terrororganisation eingestuft und verboten ist, nennt man wohl ‚Realpolitik‘.

1. HTS:

Die neuen Herren in Damaskus selbst empfangen die ersten westlichen Vertreter, träumen von einer Botschaft in Jerusalem und sind überhaupt ganz zivil geworden, während ihre unteren Dienstränge fröhlich das tun, was sie seit 2011 in Syrien getan haben: morden, rauben, plündern, brandschatzen, vergewaltigen, terrorisieren. Spezialitäten dieser Premiumterroristen sind u.a.: Köpfe abschneiden, Frauen und Kinder in Backöfen verbrennen, Schulen mit Raketen beschießen. Selbst wenn man ihr einen positiven Willen zum konstruktiven Regieren einmal unterstellen wollte, dürfte es der HTS schwerfallen, eine für alle Syrer erträgliche und tragfähige soziale, wirtschaftliche und politische Ordnung zu etablieren und zu sichern. Die öffentliche Ordnung und Daseinsvorsorge, die Kernaufgabe (und der Daseinszweck!) eines jeden Staates, in den Händen von bezahlten Mördern erscheint mir eher fragil. Konkurrenz- und Machtkämpfe zwischen den einzelnen Gruppen bzw. zwischen sich etablierenden jihadistischen Warlords würden der HTS-Zentralregierung auf jeden Fall erschweren, das Land unter ihre Faust zu bekommen und es dort zu behalten. Das HTS-Governement Idlib bietet Beispiel genug.

2. Israel:

Angeblich zur „Selbstverteidigung“, realiter für „Großisrael“ ist die israelische Armee in Syrien eingerückt. Die Gefahr könnte sein, daß Israel sich überdehnt, seine militärischen Kapazitäten in einem Mehrfrontenkrieg verschleißt, mögliche Rückschläge seiner Besetzung z.B. durch wachsenden Widerstand unterschätzt. Dazu kommt der Jemen, der es schafft, seine „Palästina 2“-Raketen über 2000 KM hinweg zielgerecht in den Flughafen „Ben Gurion“ im okkupierten Palästina zu schießen und Israel wie ein impotentes Großmaul aussehen zu lassen (https://www.presstv.ir/Detail/2024/12/30/739981/Yemeni-Armed-Forces-carry-out-over-dozen-anti-Israel-retaliatory-strikes-within-10-days). Nachdem Syrien unter HTS / Al-Qaeda zur Filiale Tel Avivs umfirmiert (https://thecradle.co/articles/new-damascus-governor-declares-our-problem-not-with-israel-as-tel-aviv-expands-occupation-of-south-syria), ist der Jemen die neue Macht in der Achse des Widerstands. Der Iran kann ihn, ebenso wie die Milizen im Irak und die Hezbollah im Libanon, aus dem Hintergrund heraus weiterhin unterstützen. Mit Luftschlägen allein ist das widerständige Volk des Jemen nicht zu bezwingen (https://thecradle.co/articles/massive-israeli-attacks-pummel-yemens-main-airport-sanaa-pledges-response-in-kind). Eine Bodenoffensive der Zionisten und ihrer VS-amerikanischen Lakaien in Jemen dürfte für die Angreifer zu einem absoluten Alptraum werden: erinnern wir uns daran, daß der Jemen die mit VSA-Hilfe aufgepumpte Armee des Königreichs Saudi-Arabien über Jahre erfolgreich bekämpft und sogar die Ölförderanlagen der Saudis mit ihren weitreichenden Raketen hat treffen können.

3. Türkei:

Sollte Erdogan sich anschicken, seinen Traum vom Neuosmanischen Reich auf syrischem Territorium zu verwirklichen (https://thecradle.co/articles/ankara-will-have-a-hand-in-drafting-syrias-new-constitution-erdogan), wird er dort mit Israel und dessen „Großisrael-Projekt“ zusammentreffen.

4. Kurden (YPG, SDF):

Für ihren Traum von ‚Kurdistan‘ kooperieren die Kurden seit mit der CIA-Tarnfirma „FSA“ gegen die Syrische Republik. Sie kämpften gegen die Syrische Arabische Armee und maßen sich an, unter dem Schutz des Pentagon den Nordosten Syriens zu beherrschen, wo sie mit ethnischen Säuberungen gegen die dort ansässigen arabischen und assyrischen Syrer ihre Visitenkarte hinterlegt haben. Das gestohlene syrische Öl fließt über die Türkei unter anderem in israelische Panzer und Kampfjets. Ob die Kurden, die sich jetzt der HTS andienen, von den syrischen Öl- und Weizenfeldern verjagt werden, wird sich zeigen.

5. Amerikaner:

Die VS-Amerikaner hatten seit mindestens eineinhalb Jahrzehnten ihren Krieg gegen Syrien mit diversen Söldnerbanden aus dem Schoße ihres CIA-Operativs Al-Qaeda (https://thecradle.co/articles/washington-trained-armed-extremist-groups-to-topple-syrian-govt) geführt und dürften sich nun, wie die Türken und Israelis, als Sieger sehen. Als Besatzer im Nordosten Syriens (https://thecradle.co/articles/pentagon-confirms-around-2000-us-troops-deployed-in-syria) stehlen sie gemäß der Ankündigung des damaligen VSA-Präsidenten Trump das syrische Öl. Dort könnten sie allerdings zwischen die Türken und Kurden geraten  (https://thecradle.co/articles/turkiye-demands-end-of-us-support-to-kurdish-militants-in-control-of-northeast-syria) und werden alle Hände voll zu tun haben, diesen Sack Flöhe zu bändigen.

Sind es also Putin (https://thecradle.co/articles/putin-talks-fall-of-assad-russia-achieved-its-goals-in-syria) und der Iran, die den Amerikanern, Israelis und Türken in Syrien listig eine Schlangengrube bereitet haben? Da Putin seine öffentlich erklärten Ziele in Syrien nicht erreicht hat, scheint er seine Ziele gewechselt zu haben.

Hier hätten wir also ein ganz klassisches ‚Great Game‘-Schachspiel zwischen den Spielern Rußland und Iran einerseits sowie dem Imperium des Bösen (Israel und VSA sowie ggf. attachierte Pudel) und der Türkei andererseits, die als angeblich gegnerische Spieler tatsächlich alle in der Hand ihres Herren und Meister sind.

Sollte dies zutreffen, ergeben sich für mich aktuell zwei Fragen:

  • Haben Moskau und Teheran die Syrer (also das Volk, nicht die kostümierten CIA-Agenten) gefragt, ob diese ihre Nation und ihre Leben zu geopolitischen Spielchen herzugeben bereit sind?
  • Was passiert, falls das Imperium des Bösen und die Türkei nicht in der Schlangengrube Syrien untergehen sondern initiativ das Spielfeld wechseln?

Wir haben derzeit keine Beweise für die hier angenommene Wirklichkeit dieses Spiels. Der quasi wie geschmiert laufende Machtwechsel in Syrien läßt die Möglichkeit vorheriger Absprachen und Vereinbarungen glaubhaft erscheinen. Die kampferprobte Syrische Arabische Armee, die über 13 Jahre lang ihre Nation gegen die aus allen dunklen Winkeln dieses Planeten zusammengefegte Pest der Menschheit, gegen Geld, Waffen, Diplomatie, Wirtschaftskrieg aus mehr als 50 Nationen dieser Welt erfolgreich verteidigt hatte, zieht sich wie auf einen Schlag widerstandslos zurück, löst sich auf? Die Frontoffiziere, die den Befehl zum Rückzug auszuführen hatten, wußten genau, was den Menschen in Aleppo passiert, wenn die Armee diese Stadt in die Hand jener Massenmörder fallen läßt, die im Ostteil Aleppos zwischen 2012 und 2016 gehaust hatten. Der Widerstandsgeist der Aleppiner sowie die verbissene Entschlossenheit, mit der die syrischen Soldaten mit einem enormen Blutzoll Aleppo schließlich im Dezember 2016 befreit hatten, wird diesen Offizieren bewußt sein. Auch die im Westen schnell verbreitete Theorie der massenhaften Desertion und der Aufgabe durch eventuell korrumpierte Generäle und Armeeführer ist nur ein Mosaiksteinchen. Kein geschmierter General kann verhindern, daß einzelne Einheiten sich dem Befehl widersetzen oder Soldaten, verzweifelt über die Niederlage und die absehbar schrecklichen Konsequenzen für ihre Familien und ihr Land, weiterkämpfen.

Die Spieltheorie (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Game_theory) kennt die Situation, in der ein Spieler sich augenscheinlich selbst schadet, um dadurch ein tatsächlich höheres Ziel zu erreichen. Diese Theorie könnte als Erklärung für Putins Verhalten herhalten: Putin, der Spieler, läßt Syrien für andere, höhere Ziele (in wessen Sinne höhere?) fallen. Im Vergleich zu den Syrern, die in die Hände der Kopfabschneider fallen, riskiert Putin gar nichts. Auch Präsident Assad wurde gerettet. Die angebliche Stellungnahme Präsident Assads  (https://libya360.wordpress.com/2024/12/16/statement-by-former-syrian-president-bashar-al-assad-on-the-circumstances-leading-to-his-departure-from-syria/) kann von hier aus weder als echt noch als Fälschung bewiesen werden. Die darin gemachte Aussage, wonach es tatsächlich keinerlei vorherige Ansprachen gegeben haben soll („At no point during these events did I consider stepping down or seeking refuge, nor was such a proposal made by any individual or party.“), müssen wir ungeprüft hinnehmen. Allerdings bleibt, auch angesichts der von Assad selbst geschilderten Ereignisse, weiterhin die Frage offen, zwischen welchen Parteien Absprachen nicht getroffen worden sind – und ob dies alleine Gewähr dafür ist, daß gar keine Absprachen existieren. Ob Präsident Assad ein Spieler war oder eine Figur, ist momentan nicht festzustellen.

Wie das Ergebnis der jeweiligen Partie auch ausfallen mag, die Völker der Welt haben kein anderes Schicksal zu erwarten als das der Spielfiguren auf dem Spielfeld der Großmächte. Diese Großmächte nun sind indes keine autonomen Nationalstaaten mehr. Im Zeitalter der globalisierten Plutokratie sind ihre angeblichen Führer („Präsidenten“, „Premierminister“) tatsächlich nicht viel mehr als die angestellten Geschäftsführer der Firmen, die dem Namen nach Staaten sind. Nennen wir diese Firmen z.B. „Vereinigte Staaten von Amerika“, „Russische Föderation“ oder „Volksrepublik China“. Das klingt viel erhabener als „Vanguard“ oder Blackrock“, die als Agenturen tatsächlich die Staaten beherrschen und selbst wieder einem sehr kleinen, sehr erlesenen Kreis von Persönlichkeiten gehören, über die man besser nicht sprechen sollte, möchte man nicht als „Antisemit“ beschimpft und mundtot gemacht werden. Nun beauftragen diese Agenturen ihre unterstellten Geschäftsführer, am Spieltisch Platz zu nehmen und das bereits vorbestimmte Spiel zu spielen, während ihre Herren, die Eigentümer der Firmen, sich hoch über den Spielern befinden und die Fäden ziehen. Diese Herren gewinnen am Ende immer.

Die ungute Nachricht, man mag es bereits geahnt haben, ist: Im ‚Great Game‘ sind nicht geschnitzte Figuren aus Holz, sondern Menschen und Völker die Spielfiguren, Nationen und Territorien sind das Spielfeld. Spielfiguren und Spielfelder können dabei wechseln, das Risiko der Niederlage tragen allein die Menschen, Völker und Nationen.

Doch wer zwingt die Menschen und Völker dazu, Figuren im Spiel Fremder zu sein? Sie haben real überhaupt keine Verpflichtung, den Spielern zu dienen. Die Spieler werden spielen, solange sie in der Lage sind, Figuren, also Menschen und Völker, auf das Spielfeld zu stellen. Sobald ihnen dies nicht mehr gelingt, ist das Spiel aus. Wer hindert nun eigentlich die Figuren daran, das Spiel zu beenden? Wer hindert sie daran, die eh nur einseitige Loyalität aufzukündigen und das Spielfeld derer zu verlassen, die mit ihnen gespielt haben und weiterspielen wollen? Was außer die eigene Komplizenschaft hält sie als Figuren auf dem Feld? Denn anders als tote Figuren aus Holz haben beseelte Menschen einen Willen.

Die gute Nachricht zum Schluß: Es gibt Menschen und Völker, die das Spiel nicht mitzumachen bereit sind.

Am schillerndsten erscheint mir derzeit der Jemen, dessen Menschen große Opfer auf sich nehmen, aber auch die libanesische Hezbollah, die Milizen im Irak und das geschundene, vom Völkermord betroffene Volk der Palästinenser. Seit Wochen wehren sich Palästinenser in Jenin tapfer gegen den Terror durch die als „Palästinensische Autonomiebehörde“ firmierende Agentur der Israelis (https://thecradle.co/articles/israel-pa-escalate-west-bank-raids-as-jenin-resistance-vows-no-surrender). Und in Syrien formiert sich der erste signifikante Widerstand um eine Eliteeinheit der früheren Syrischen Arabischen Armee, die entgegen des Demobilisierungsbefehls weiter gegen HTS kämpft (https://news.sky.com/story/syrian-forces-targeted-in-deadly-ambush-with-assad-loyalists-13279801 sowie https://www.presstv.ir/Detail/2024/12/30/739994/Syrian-resistance-front-issues-statement-against-HTS-administration).

Diese Weigerung, eine Figur im ‚Great Game‘ zu sein, erscheint als Akt des Widerstands primitiv und begrenzt. Aber erstens ist der Widerstand gegen die Spieler lebendig und zweitens beweist jede Weigerung zum Mitspielen, daß eine Alternative besteht. Wer kämpft, kann verlieren – wer nicht kämpft, hat schon verloren. Boykottieren die Figuren das Spiel, endet es.

Entscheidender Prüfstein ist definitiv die Haltung zum aktiven Widerstand gegen die völkermordenden Besatzer Palästinas. Auch in den schwersten Zeiten seines Existenzkampfes hat Syrien treu zu Palästina gehalten und die Palästinenser tatkräftig unterstützt. Gleiches gilt für den Iran, die Hezbollah und den Jemen. Reiche arabische Potentaten haben es vorgezogen, mit Israel zu kungeln, genau wie HTS es nun tut. Und die Untätigkeit Rußlands spricht eine sehr deutliche Sprache. Sich auf die großen Mächte zu verlassen, ist fatal.

Das Spiel geht weiter. Manchmal wechseln auch die Spieler. Die einzige tatsächliche Konstante sind also die Einsätze der Figuren – und die Herren über das Spiel. Vielleicht werden dereinst die Herren die Loyalität der Figuren verlieren. Dann werden sie nackt dastehen.

Beseelte Menschen haben das Privileg zur Entscheidung. Daher erscheint es mir wichtig, darüber nachzudenken, wie man gelebt haben will, wenn man dereinst gehen muß. Die Entscheidung, die wir daraus ableiten, ist von Bedeutung über uns selbst hinaus.

Stefan H. Heuer, M.A., Historiker, hat als Dozent in der Erwachsenenbildung sowie in der Personalentwicklung u.a. eines international tätigen VS-amerikanischen Dienstleistungsunternehmens gearbeitet.

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Schachspieler Putin