Lew Nikolajewitsch Gumiljow (1912-1992) war ein russischer Historiker und Ethnologe, der einen wichtigen Platz in der postsowjetischen russischen Kulturlandschaft einnimmt. Seine Infragestellung der schwarzen Legende vom „mongolischen Joch“ – die seiner Meinung nach unter den westlich orientierten Romanows entwickelt wurde – ist heute weit über die neo-eurasistische Strömung hinaus, die ihn zu ihrem wichtigsten akademischen Bürgen gemacht hat, bekannt und geachtet. Unzählige Denkmäler, Kolloquien, Veröffentlichungen und Doktorarbeiten sind ihm gewidmet. Wladimir Putin zitierte ihn mehrfach in seinen Reden, wie Michel Eltchaninoff in seinem kritischen, aber dennoch interessanten Buch „Dans la tête de Vladimir Poutine“ (S. 110–114) berichtet. In seinen Grußworten an einen Kongress, der dem „Erbe Lew Gumiljows und dem Schicksal der Völker Eurasiens“ gewidmet war, erklärte Putin beispielsweise: „Mit einem außergewöhnlichen analytischen Talent, der Begabung eines echten Forschers und Entdeckers, hat Lew Gumiljow einen einzigartigen Beitrag zur Entwicklung des nationalen und weltweiten wissenschaftlichen Denkens geleistet.“
Gumiljows revisionistische These über die historischen Beziehungen zwischen den Slawo-Russen und den Turko-Mongolen der Goldenen Horde ist an sich schon spannend. Was die Figur Gumiljows jedoch besonders faszinierend und rätselhaft macht, ist die Tatsache, dass er darüber hinaus einen soliden Ruf als Antisemit mit sich herumschleppt. Sein Fall ist Gegenstand des ersten Kapitels von Jean-Jacques Maries Buch „L’Antisémitisme en Russie, de Catherine II à Poutine“ (das gesamte Kapitel kann auf Amazon durchgeblättert werden). Während seine Analysen des „Ethno-Parasitismus“ der Juden, die Teil seiner akademischen Arbeit sind, ihm im Westen Schande und radikalstes „Cancelling“ einbringen würden – wenn sein Name dort bekannter wäre –, scheinen sie seine Berühmtheit in Russland und Zentralasien nicht zu schmälern. Man hört kaum etwas von einer Polemik über ihn.
Aus diesen beiden Gründen (Gumiljows Bedeutung als Theoretiker des Eurasismus und die Toleranz der russischen Welt gegenüber seiner scharfen Kritik am jüdischen Parasitismus) erschien es mir interessant, Ihnen diese Person vorzustellen, zumindest das, was ich über sie in Erfahrung bringen konnte. Da kein Werk von Gumiljow ins Französische übersetzt wurde und nur eines seiner Bücher ins Englische („Searches for an Imaginary Kingdom: The Legend of the Kingdom of Prester John“1), stütze ich mich fast ausschließlich auf die Bücher und Artikel des jüdisch-amerikanischen Gelehrten Mark Bassin, der kritisch über ihn berichtet, aber dennoch gut informiert ist und, wie ich annehme, ehrlich ist, wenn er ihn übersetzt.
Lew Gumiljow ist der Sohn von zwei der größten russischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Nikolai Gumiljow und Anna Achmatowa, die beide von den sowjetischen Behörden verfolgt wurden. Sein Vater wurde 1921 von den Bolschewiki verhaftet und hingerichtet. Lew selbst verbrachte dreizehn Jahre in stalinistischen Gefängnissen und Arbeitslagern und stand nach seiner Rückkehr 1956 bis zu seiner Pensionierung in den frühen 1980er Jahren unter der Aufsicht des KGB.
1962 wurde er zum Gastwissenschaftler an der Geographischen Fakultät der Staatlichen Universität Leningrad ernannt, und seine Ideen entwickelten sich im Rahmen einer breiteren Bewegung unter sowjetischen Ethnographen, die nach neuen Perspektiven auf das Wesen der Ethnizität suchten.
Sein Aufstieg zur Berühmtheit begann während Gorbatschows Perestroika in den späten 1980er Jahren und setzte sich seit dem Zusammenbruch der UdSSR ohne Unterbrechung bis heute fort. Russische Nationalisten und einige Mitglieder der heutigen herrschenden Elite haben seine Perspektiven inzwischen weitgehend übernommen.
Mit vielleicht einer gewissen Übertreibung schreibt Mark Bassin: „Seine Statur und sein Ruf sind heute immens, nicht nur in Russland, sondern auch in der ehemaligen Sowjetunion. Gumiljow wird frei mit Herodot und Karl Marx, Oswald Spengler und Albert Einstein verglichen, und seine Bücher haben sich buchstäblich millionenfach verkauft. In den Buchhandlungen füllen sie nicht nur Regale, sondern ganze Bibliotheken. Seit den 1990er Jahren gab es mindestens ein halbes Dutzend konkurrierende Projekte zur Veröffentlichung seiner gesammelten Werke, und es wurden zahlreiche Bücher und Dutzende Doktorarbeiten über sein Leben und seine Arbeit geschrieben. Eines seiner Bücher wurde als Lehrbuch für russische Oberschüler angenommen, und seine Ideen werden im gesamten Lehrplan behandelt. Verschiedene Organisationen widmen sich ausschließlich der Entwicklung seines Erbes, von denen die größte – das Lew-Gumiljow-Zentrum mit Sitz in Moskau – Zweigstellen in St. Petersburg, Baku und Bischkek hat und weiter expandiert. In der Hauptstadt der Kalmückischen Republik Elista gibt es eine Lew-Gumiljow-Straße, im Zentrum von Kasan ist ihm ein großes öffentliches Denkmal gewidmet, und seine Büste ist in wissenschaftlichen Instituten in Moskau, Ufa, Jakutsk und anderswo prominent platziert. In der kasachischen Hauptstadt Astana trägt eine große Universität stolz seinen Namen. Anlässlich seines 100. Geburtstages im Jahr 2012 bekräftigte die kasachische Regierung ihre Verehrung für sein Andenken, indem sie einen Berg im Altai-Gebirge im Osten des Landes ‚Gumiljow-Berg‘ nannte und eine Gedenkbriefmarke zu seinen Ehren herausgab. Gumiljows Ideen werden regelmäßig von führenden Politikern der ehemaligen Sowjetunion angeführt, insbesondere vom russischen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin, der Gumiljows ‚außergewöhnliche Talente‘ und den ‚einzigartigen Einfluss‘, den seine Ideen hatten, lobt. Tatsächlich bekräftigt Putin ganz klar die Goumilew’sche Inspiration einer wichtigen außenpolitischen Initiative seiner dritten Amtszeit: die Schaffung einer ‚Eurasischen Union‘ zwischen den ehemaligen Sowjetstaaten.“
Die ethnische türkisch-russische Verschmelzung nach Gumiljow
Der einflussreichste Teil von Gumiljows Werk betrifft die historischen Beziehungen zwischen den Russen und den Steppennomaden von der Mongolei bis nach Osteuropa. Diese Forschung wurde in seinem Magnum Opus „Die alte Rus und die Große Steppe“2 zusammengefasst, das drei Jahre vor seinem Tod veröffentlicht wurde. Gumiljows Interesse galt vor allem dem als Goldene Horde bekannten Khaganat, das im 13. Jahrhundert in die Länder des alten Russlands eindrang und diese eroberte.
Gumiljow interpretiert die Herrschaft des Nationalhelden und orthodoxen Heiligen Alexander Newski als eines der wichtigsten Beispiele für die interethnische Komplementarität zwischen Slawen und Tataren. Er betont die Präsenz und den Einfluss nestorianischer Christen unter letzteren sowie die historische Bedeutung von Newskis Freundschaft mit dem Sohn des Großkhans Batuu (Enkel von Dschingis Khan). Ihr Schwur der „ewigen Brüderlichkeit“ begründete ein Bündnis, „um den Vormarsch der Deutschen aufzuhalten, die die Reste der alten russischen Bevölkerung in die Leibeigenschaft zwingen wollten“. Newski seinerseits schickte seine eigenen Truppen, um die Goldene Horde bei ihren Kämpfen gegen die Alanen und andere Nomadengruppen zu unterstützen. Die praktischen Vorteile dieser Allianz waren enorm, denn sie brachte „den ersehnten Frieden und eine sichere Ordnung“ und ermöglichte es der alten Rus, sich gegen die Übermacht der westlichen Mächte zu wehren. Dies war der Schlüssel zum Aufstieg Russlands zur Großmacht. Letztendlich muss die Interaktion zwischen Russlandslawen und Tataren-Mongolen „nicht als Unterwerfung der Rus durch die Goldene Horde“ gesehen werden, wie es die westliche Geschichtsschreibung traditionell beschreibt, sondern vielmehr als „ethnische Symbiose“ – eine Vereinigung zweier Ethnien zu ihrem gegenseitigen Nutzen. Das Vermächtnis von Dschingis Khan war nicht die Zerstörung der altrussischen Zivilisation, sondern vielmehr die Schaffung der modernen russischen Ethnie. Auf diese Weise begann Russland seine moderne Existenz als „russisch-tatarisches Land“.
Diese neue Interpretation der russischen Identität ist von großem Bedeutung in der geopolitischen Diplomatie. Sie erklärt insbesondere die Berühmtheit Gumiljows in der Republik Tatarstan. Nach Gumiljows Tod im Jahr 1992 etablierte sich die tatarische Regierung schnell als Hüter seines Andenkens, indem sie an seinem Grab im Alexander-Newski-Kloster in St. Petersburg ein Denkmal errichten und an dem Gebäude, in dem er lebte, eine Gedenktafel anbringen ließ (abgebildet auf dem Einband von Basins Buch). Eine große internationale Konferenz zum Thema „Die Ideen des Eurasismus im wissenschaftlichen Erbe von Lew Nikolajewitsch Gumiljow“ fand 2004 in Kasan, der Hauptstadt von Tatarstan, statt. Die offizielle Anerkennung wurde im folgenden Jahr anlässlich der 1000-Jahr-Feier der Stadt mit der Errichtung einer Statue Gumiljows bestätigt, die die Inschrift seiner denkwürdigen Aussage trägt: „Ich bin ein Russe, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, die Tataren gegen Beleidigungen zu verteidigen.“ Wladimir Putin nahm gemeinsam mit dem tatarischen Präsidenten Mintimer Schaimijew an der Einweihung des Denkmals teil. Dessen Nachfolger Rustam Minnichanow bestätigte den „enormen Respekt und die tiefe Dankbarkeit“ des tatarischen Volkes für das Andenken an Gumiljow.
Gumiljow wird auch in Kasachstan, einer ehemaligen Sowjetrepublik, die 1991 ihre Unabhängigkeit erlangte, als großer Wohltäter geehrt. Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew (1990-2019), der als erster postsowjetischer Führer die Schaffung einer „Eurasischen Union“ forderte, eröffnete 1996 die Lew-Gumiljow-Nationaluniversität für Eurasien in seiner neuen Hauptstadt Astana. Im Oktober 2000 reiste Putin nach Astana, um ein Übereinkommen zur Gründung einer Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft zu unterzeichnen, und einige Jahre später machte er in der Lew-Gumiljow-Universität auf die Bedeutung Gumiljows für dieses Projekt aufmerksam. Gumiljow, so sagte er, habe „einen brillanten Beitrag nicht nur zur Entwicklung des historischen Denkens geleistet, sondern auch zur Bekräftigung der Ideen von Gemeinschaft über die Zeiten hinweg und der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker, die die riesigen Gebiete Eurasiens von der Ostsee über die Karpaten bis zum Pazifischen Ozean besiedelt haben“. Im Jahr 2012 gab Putin Nasarbajews Projekt seine öffentliche Zustimmung und im Januar 2015 wurde die Eurasische Wirtschaftsunion ins Leben gerufen.
Ich habe keine Informationen über das Interesse an Gumiljow in der Türkei gefunden, aber es scheint offensichtlich, dass seine Behauptung der ethnischen Verbindung zwischen Türken und Russen potenziell wichtig für die Zukunft der Beziehungen zwischen der Türkei und Russland ist – zwei Reichen, die sich im 19. Jahrhundert zum Vorteil des britischen Empire oft bekriegten, das das erstere dazu nutzte, das letztere „einzudämmen“. Israel Shamir hat diesen Punkt in einem großartigen Artikel aus dem Jahr 2005 mit dem Titel „Osmanisches Reich, komm zurück!“ geltend gemacht. Shamir zitierte Gumiljows Wort, dass „Russland in seiner Union mit den tapferen Türken unschlagbar ist“, und wünschte sich, dass Moskau und Konstantinopel – heute Istanbul –, diese beiden Erben des Ruhms von Byzanz, sich in einer neuen großen Zivilisation vereinen, die dem verderblichen Einfluss des Westens widerstehen kann.
Shamir erwähnt den Erfolg einer Reihe von Büchern, die der Petersburger Autor Holm Van Zajchik3 unter dem Titel „Die Eurasische Symphonie“ geschrieben hat und die eine alternative Geschichte der eurasischen Welt entwerfen: „Was wäre geschehen, wenn der aufgeklärte Anführer der türkischen Goldenen Horde, Sartak Khan, ein Freund des heiligen Alexander Newski, nicht ermordet worden wäre und Russen und Türken infolgedessen weiterhin zusammen gelebt hätten, in einem einzigen Land, das zudem noch wohlhabend war?“
Van Zajchik nennt das daraus resultierende Reich „Ordus“ – eine Mischung aus den Wörtern „Horde“ und „Rus“. Dieses Reich erstreckt sich über den gesamten eurasischen Kontinent. „Der Ordus ist ein Gebiet, in dem die Moderne Tradition und Religion einverleibt hat; die Familie ist intakt geblieben und obwohl es reiche Menschen gibt, ist das ungezügelte Streben nach Reichtum verpönt.“
Diese Vision eines neuen Russlands, das mit Asien vereint ist, verdankt Gumiljow viel. Sie hat jedoch eine lange Vorgeschichte in der russischen geopolitischen Philosophie. Gumiljows Neubewertung des „tatarischen Jochs“ als positives ethnisches und zivilisatorisches Band stützte sich auf die Schriften russischer Historiker wie Nikolai Karamsin (1766–1826), der in einem Kapitel seiner zwölfbändigen Geschichte des russischen Staates die konstruktiven Beiträge der mongolischen Herrschaft hervorgehoben hatte. Konstantin Leontjew (1831–1891), ein weiterer grundlegender Pionier des Eurasismus, trug ebenfalls dazu bei, die asiatische Dimension und das asiatische Schicksal Russlands aufzuwerten. Fjodor Dostojewski (1822–1881) wurde am Ende seines Lebens selbst zu einem Propheten des Eurasismus. In einem der letzten Einträge seines „Tagebuchs eines Schriftstellers“ fand ich einen interessanten Vergleich zwischen dem, was Amerika für die Europäer bedeutete, und dem, was Asien nun für die Russen bedeuten sollte: „Für uns ist Asien wie das damals unbekannte Amerika. Mit unserem Streben nach Asien werden unser Geist und unsere Kräfte regeneriert werden.“4 Wenn man bedenkt, dass der geistige Verfall des Westens auf die Art und Weise zurückgeht, wie die Europäer die Ureinwohner Amerikas behandelten, dann können wir hoffen, dass eine russisch-asiatische Win-Win-Allianz die Entstehung einer radikal anders gearteten Weltordnung fördern wird.
Die Theorie der Ethnogenese von Gumiljow
Gumiljow ist in erster Linie ein Theoretiker der Ethnogenese, d. h. der Entstehung von Völkern. Er gilt als Essentialist, der den Ethnos als eine der grundlegendsten und dauerhaftesten Kategorien der menschlichen Organisation sieht. Seiner Ansicht nach unterscheiden sich alle Ethnien voneinander durch eine „spezielle Verhaltenssprache“ oder einen „Verhaltensstereotyp“ – eine implizite und verinnerlichte Norm, „die die Beziehungen zwischen dem Kollektiv und dem Individuum sowie zwischen den Individuen selbst regelt. Diese Norm wirkt unmerklich in allen Aspekten des täglichen Lebens“. Sie wird spontan zwischen den Generationen weitergegeben und ist letztlich der Schlüssel für jedes ethnische Überleben.
Gumiljow betont die intrinsische Verbindung zwischen dem organischen Leben und der geografischen Umgebung. „Unabhängig von ihrer Größe lebt oder lebte die überwältigende Mehrheit der Ethnien in bestimmten Gebieten, wo sie Teil der Biozönose der jeweiligen Landschaft waren und mit dieser zusammen eine Art ‚geschlossenes System‘ bildeten.“ Nur in der Umgebung, in der sie entstanden ist, kann eine Ethnie ihr Überleben auf normale und gesunde Weise sichern. Ihr „Verhaltensstereotyp“, ihre materielle Kultur, ihre Wirtschaft und ihr geistiges Leben sind alle untrennbar mit den spezifischen Umweltbedingungen ihrer „ökologischen Nische“ verbunden. Wenn ein Volk in eine deutlich andere Landschaft wandert, entwickeln die Siedler schließlich völlig neue ethnische Merkmale, ein Prozess, den Gumiljow als „ethnische Divergenz“ bezeichnet.
Das letzte Element von Gumiljows Theorien zur Ethnogenese betrifft die Art und Weise, wie Ethnien nebeneinander existieren und miteinander interagieren. In „Ethnogenese und die Biosphäre der Erde“5 stellt Gumiljow fest, dass, wenn eine Ethnie aus ihrer natürlichen Umgebung in eine andere Ethnie verdrängt wird, sie in der Regel durch Assimilation verschwinden wird, dass es ihr aber in sehr seltenen Fällen gelingen kann, durch Parasitismus zu überleben und sogar stärker zu werden. Gumiljow bezeichnet dann die Verbindung zwischen der Wirts- und der parasitären Ethnie als „Chimäre“.
Er entlehnt diesen Begriff aus den Naturwissenschaften: „In der Zoologie bezeichnet man Beziehungen als Chimären, die entstehen, wenn Würmer in den Organen eines Tieres erscheinen. Dieses kann ohne den Parasiten existieren, aber der Parasit würde ohne denjenigen, der ihn beherbergt, zugrunde gehen. Indem der Parasit jedoch im Körper seines Wirts lebt, tritt er in dessen biologischen Kreislauf ein. Indem er zu einem erhöhten Nahrungsbedarf führt und seine Hormone in das Blut oder die Galle des Wirtsorganismus einschleust, verändert der Parasit die Biochemie des Wirtsorganismus.“
In der Ethnologie ist eine Chimäre ein „parasitärer Ethnos“, „der die einheimische Bevölkerung des Landes sowie dessen Flora, Fauna und Bodenschätze ausbeutet“. Ähnlich wie „eine Population von Bakterien oder Infusorien [eine Art einzelliger Organismen]“, die „sich durch die inneren Organe der Person oder des Tieres ausbreitet“, saugt eine chimärische ethnische Invasion die Lebensenergien und Ressourcen ihres Wirtsorganismus aus.
Gumiljow verglich die Beziehung zwischen einer Chimäre und ihrer einheimischen Ethnie auch mit einem krebsartigen Tumor: „Dieser kann nur mit dem Organismus wachsen, niemals außerhalb, und er lebt nur auf Kosten des Wirtsorganismus. Genau wie ein Krebsgeschwür bezieht ein chimärisches ethnisches Antisystem […] seine Existenzgrundlage aus dem einheimischen Ethnos.“ Dabei stört es die Lebensprozesse des letzteren.
Auch die eindringende Ethnie wird unwiederbringlich degradiert, allerdings auf eine Weise, die sie eher stärkt als schwächt. Entwurzelte Ethnien überleben gerade dadurch, dass sie Merkmale entwickeln, die zwar nicht natürlich sind, ihnen aber entscheidende Vorteile gegenüber ihren Mitbewohnern verschaffen. Entwurzelung als strukturelles Merkmal wird selbst zu einem selektiven Vorteil in dem Sinne, dass die eindringende Ethnie Strategien verinnerlicht hat, die es ihr ermöglichen, praktisch überall zu gedeihen.
Der Staatsstreich der Radhaniten im Chasarenreich
Gumiljow erwähnt mehrere recht obskure historische Beispiele für „Chimären“, doch er beschäftigte sich vor allem mit dem Sonderfall des jüdischen Volkes.
Marc Bassin: „Gumiljows Beschäftigung mit diesem einzigartigen Problem zieht sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. Man kann behaupten, dass alle seine historischen Theorien und Rekonstruktionen in hohem Maße von ihr diktiert werden. Nach Gumiljows Verständnis tauchen die Juden […] als eine prototypische Chimäre und ein Antisystem auf, und die Geschichte ihres ethnischen Lebens liefert den besten Beweis für die Störung und Verwüstung, die diese Art von negativem ethnischen Kontakt mit Sicherheit mit sich bringt.“
Weil der Bruch mit ihrer ursprünglichen Umgebung – den arabischen Wüsten – in einem frühen Stadium ihres ethnogenetischen Zyklus erfolgte, entwickelten die Juden laut Gumiljow die Fähigkeit, in praktisch jede Art von Naturlandschaft einzudringen, und sie kodifizierten ihre Strategien sogar im Talmud. Überall, wo sie sich niederließen, verhielten sie sich gegenüber der einheimischen Bevölkerung wie eine Chimäre und förderten bewusst „Skepsis und Gleichgültigkeit“, um den geistigen und moralischen Widerstand ihrer Gastgeber zu erodieren und ihre Herrschaft über sie auszuweiten.
Gumiljow beschäftigte sich, anders als später Alexander Solschenizyn, in seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht viel mit den Auswirkungen des jüdischen Parasitismus im modernen Russland. Er investierte seine Energie in die archäologische, ethnografische, historische und geografische Untersuchung des zentralasiatischen Königreichs der Chasaren im frühen Mittelalter, dem er das Buch „Die Entdeckung des Chasarenreichs“6 (1966) widmete, dessen Inhalt in seinem Hauptwerk „Die alte Rus und die große Steppe“ (1989) wieder aufgegriffen wurde. Das mächtige Handelsimperium der Chasaren fasziniert russische Wissenschaftler seit dem 19. Jahrhundert – nicht zuletzt, weil es fast spurlos verschwand und daher sehr mysteriös bleibt.
Laut Gumiljow entwickelten die Chasaren harmonische Interaktionen mit all ihren benachbarten Ethnien – mit Ausnahme der radhanitischen Juden. Sie hatten keinerlei Probleme mit den karaitischen Juden, die den Talmud ignorierten und nur die Tora anerkannten, wodurch sie geistig dem Christentum und dem Islam näher standen als die vorherrschende Tradition des rabbinischen Judentums. Das Gewebe der chasarisch-jüdischen Interaktion wurde jedoch im 7. Jahrhundert zerrissen, als sich ein neuer Strom jüdischer Einwanderer, die vor der Verfolgung in Persien und Byzanz flohen, über die eurasische Steppe ergoss. Die aggressivsten dieser Neuankömmlinge waren die Radhaniten – Karawanenhändler, die im frühen Mittelalter auf den Handelsrouten, die die christliche und islamische Welt mit dem Fernen Osten verbanden, sehr aktiv waren.
Im Gegensatz zu den Karaiten waren die Radhaniten Anhänger der rabbinischen Tradition. Problematischer als ihr doktrinäres Vorurteil war jedoch ihre Spezialisierung auf den Großhandel zwischen fremden urbanen Zentren, die sie unwiderruflich von ihrer ursprünglichen ökologischen Nische entfernt und zu einer „brutalen Ethnie“ gemacht hatte, die gegenüber anderen Ethnien keine moralischen Skrupel kannte. Die Monopolisierung des Karawanenhandels bescherte den Radhaniten einen sagenhaften Reichtum, der größtenteils aus dem Handel mit Sklaven stammte, vor allem mit Mädchen und Jungen, die unter den osteuropäischen Völkern gefangen genommen wurden. Die Tatsache, dass aus dem Wort „Slave“ das Wort „Sklave“ entstand (slave im Englischen; das französische Wort geht auf die Bezeichnung der Sklaven als Esclavons im Altfranzösischen zurück), zeugt vom Ausmaß und der Quasi-Monopolstellung dieses Handels.
Angezogen von der strategischen Nähe der chasarischen Hauptstadt Itil zu einer Reihe wichtiger Karawanenrouten, ließen sich diese jüdischen Händler in großer Zahl dort nieder. Im 8. Jahrhundert bildeten sie eine ausländische Elite und erlangten einen stetig wachsenden politischen Einfluss. Die Situation erreichte ihren Höhepunkt Anfang des 9. Jahrhunderts, als ein jüdischer Fürst die Macht übernahm und das rabbinische Judentum zur offiziellen Staatsreligion machte. Die Folge war ein blutiger Bürgerkrieg, den die jüdische Kaste mithilfe von Söldnern gewann. Obwohl die Masse der ethnischen Chasaren schließlich gezwungen war, sich der Autorität der jüdischen Elite zu unterwerfen, konvertierten sie nie zum Judentum, das laut Gumiljow ausschließlich der Glaube der politischen Herrschaft blieb. Damit, so seine Schlussfolgerung, habe sich das Chasarenreich in eine „politisch-soziale Chimäre“ verwandelt, die von einer jüdischen Handelselite regiert wurde, wobei die ursprüngliche Ethnie der Chasaren zu Untertanen „eines Staates, der ihnen ethnisch und religiös fremd war“, wurde.
Gumiljow bezeichnet das jüdisch dominierte Chasarenreich als „Handelskrake“, die von einem internationalen Netzwerk von Bündnissen mit ausländischen Großmächten unterstützt wurde, darunter die Tan-Dynastie in China, die Karolinger und ihre Nachfolger in Nordeuropa, das Kalifat von Bagdad und die Waräger in Skandinavien.
Die Kiewer Rus, deren wachsende Macht auf dem Seehandel beruhte, der die Ostsee mit dem Schwarzen Meer verband, geriet in Konkurrenz und Konflikt mit den Chasaren, und 965 brach das Chasarenreich unter dem Ansturm des Kiewer Fürsten Swjatoslaw zusammen. Die überlebende jüdisch-chasarische Elite zerstreute sich über Eurasien und Europa. Einige zogen sich auf die Krim zurück, andere flohen in den Westen. Viele blieben laut Gumiljow in den russischen Ländern aktiv, förderten Feindseligkeiten zwischen den russischen Fürsten und stachelten die Steppenvölker zu Angriffen auf die Russen an.
Abschließend lässt sich feststellen, dass Gumiljows extrem negative Interpretation der jüdischen Diaspora und insbesondere der radhanitischen Juden eindeutig in die Kategorie des Antisemitismus nach dem heutigen westlichen judeophilen Standard fällt. Seine Darstellung entwurzelter Juden als Ethno-Parasiten erinnert an die Worte von Henry Ford aus dem Jahre1920: „Die Eigenart des Juden ist es, außerhalb des Volkes der ursprünglichen Bewohner zu leben, aber keinesfalls außerhalb der bewohnten Gebiete oder weit entfernt von den Orten der Annehmlichkeiten und den Entscheidungszentren. Den Boden sollen andere kultivieren – der Jude wird, wenn er kann, von der Arbeit des Landwirts profitieren. Wiederum andere arbeiten hart im Handwerk und in der Industrie: Auch hier wird der Jude die Früchte ihrer Arbeit nutzen. Das ist seine besondere Genialität. Wie könnte man diese Eigenschaft anders als Parasitismus bezeichnen?“7
Es ist daher sehr bezeichnend, dass Gumiljow in Russland und unter den Völkern, die ihre Rolle in der entstehenden eurasischen Gemeinschaft spielen wollen, nicht etwa geschmäht wird, sondern in hohem Ansehen steht, allen voran bei den Kasachen, deren Territorium sich heute mit dem des ehemaligen Chasarenreichs überschneidet (ohne dass man die Identität der beiden Ethnien bestätigen kann).
1 Cambridge University Press, 1987: https://www.academia.edu/40119304/Lev_Gumilev_Searches_for_an_Imaginary_Kingdom_The_Legend_of_the_Kingdom_of_Prester_John
2 Древняя Русь и Великая степь, 1989 [1992?]
3 Хольм ван Зайчик, Holm Van Zaychik
4 Tagebuchs eines Schriftstellers, Januar 1881, Kap. II, §4)
5 Этногенез и биосфера Земли, 1979
6 Offenbar nicht übersertzt.
7 Der internationale Jude (1920)
Literatur:
Mark Bassin: The Gumilev mystique : biopolitics, Eurasianism, and the construction of community in modern Russia: https://www.worldcat.org/de/title/gumilev-mystique-biopolitics-eurasianism-and-the-construction-of-community-in-modern-russia/oclc/945976904
Weiteres, hier nicht erwähntes Gumiljow-Buch: Von der Rus zu Russland : ethnische Geschichte der Russen spannend erzählt. Aus dem Russ. übers. von Olga Großmann unter Mitarb. von Inge Pforr. Münster : Verl.-Haus Monsenstein und Vannerdat, 2005 ISBN 3-86582-214-2 (On-demand)
Audio: The Khazarian Mafia Hoax w/ Karl Haemers
Erschien zuerst auf Égalité & Réconciliation (Alain Soral)
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Die Russen, die Juden und der Wodka,
Eine byzantinische Sicht auf Russland und Europa,
Israels biblische Psychopathie